Von Logroño nach Najera (29 km)
Gestern Abend vor dem Schlafen gehen habe ich der Mannschaft verkündet, dass ich 5 Uhr aufstehen werde, um den heißen Tag zu umgehen. Judith und Eric sind sofort mit dabei, wir schlafen zwar gerne aus, aber wir kommen auch gerne früh in einer Herberge an, um so mehr Zeit zum Ausruhen und zur Stadtbesichtigung zu haben.
Wir stehen also um 5 Uhr auf und sind die ersten, damit wecken wir anscheinend den Rest des Schlafsaales, einige murmeln uns muffelig entgegen. Bernard brummt nur in sein Kissen, dass ihn keine zehn Pferde jetzt zum Aufstehen bewegen können.
Harry liegt flach und starr wie eine Statue in seinem Bett, ähnlich wie Bill Murray in "Und täglich grüßt das Murmeltier". Hat er die ganze Nacht so gelegen, ohne sich zu bewegen? Als meine Uhr klingelte, wurde er ebenfalls wach und schlug die Augen auf, als ich mich aus dem Bett schwang.
"Is it five, Christian?", fragte er mich mit tänzelnder Zunge, sein irischer Akzent ist einfach goldig. Er hat keinen Schlafsack, schläft in Wandermontour und muss sich nur noch die Schuhe anziehen, er ist sofort hellwach oder er braucht keinen Schlaf und legt sich jede Nacht nur hin, um nicht aufzufallen. Aber dieses Mysterium geht wohl zu weit.
Zu dritt ziehen wir also los durch das noch schlafende und dunkle Logroño, kurz vor dem Ende der Stadt treffen wir wieder auf Harry, der sich sehr an meiner funktionierenden Taschenlampe erfreut. An dieser Stelle teilen wir uns auf, Judith und Eric gehen voran, meiner Blase geht es zwar besser, aber ich muss immer noch langsam laufen, Harry passt sich meinem Tempo an.
Wie wir so durch die Morgendämmerung streifen, versuchen wir für mich einen Wanderstock zu finden, Harry hat bereits einen recht kurzen. Plötzlich verschwindet er im Unterholz und reißt hübsch aussehende Stöcker von den abgesägten Bäumen, es ist eigentlich kein guter darunter, aber ein schlechter ist erst einmal besser als keiner. Dieses Provisorium drückt er mir mit überzeugter Miene in die Hand.
Hinter wenigen Kurven auf einer Lichtung erwartet uns eine hübsche Überraschung. Dort steht ein verlassener, überdachter Unterstand, bestückt mit Keksen, Äpfeln und einem großen Fass voll mit Stöckern. Ich gönne mir gleich zwei und habe danach das Gefühl über die Erde zu fliegen. Die Schmerzen an der Blase verschwinden allmählich, die Stöcker erfüllen ihren Zweck.
Die ganze Zeit unterhalte ich mich mit Harry, zuerst über die irische Geschichte, anschließend über die deutsche und schließlich enden wir bei der europäischen Finanzpolitik. Ich habe keine Ahnung, wie wir dahin gekommen sind, es hat sich wohl im Verlauf des Gesprächs entwickelt.
Im Tal der tausend Steinmännchen (http://www.hardcastle.de/pilger022.gif) |
Die Entwicklung endet bei dem Thema Meditation, Harry war Indien, Nepal und Thailand und ist von den Mönchen in Meditation unterwiesen worden. Das mag in diesem Moment hochtrabend und wie im Film klingen, aber Harrys Wesensart spricht dafür, er ist ein spiritueller Mensch, ein wenig zu spirituell für meinen Geschmack. Das macht ihn nicht minder freundlich, nur kann er mich mit Meditation und Spiritualismus nicht begeistern, trotzdem lausche ich neugierig wie ein kleiner Junge seinen Ausführungen. Harry entscheidet meistens aus dem Bauch heraus und ist aufs Äußerste instinktiv. Man könnte sagen, er läuft mit seiner Nase, was er stets betont, der Beweis dafür bietet sich buchstäblich in Navarette, das wir pünktlich zur Öffnung der Geschäfte durchqueren. Beim Reden kommen wir etwas vom Weg ab und stehen plötzlich mitten in einer Straßenbaustelle. An der Straßenseite gibt es mehrere Bäckereien, aus einer kommen uns bezaubernde frische Düfte entgegen, Harry nimmt die Witterung auf und wir besorgen uns jeder das beste, leckerste und frischste Baguette, das mir jemals untergekommen ist. Als zweites Frühstück gönnt er sich Kaffee und ich ein Schokobrötchen, das in Spanien Napolitana heißt.
Judith und Eric, verglichen mit einem Weinfeld |
Harry erzählt mir von seiner Lebenseinstellung, für ihn ist alles eine Frage der Gedanken und des Geistes. Er geht die Sache weder streng wissenschaftlich noch streng philosophisch an, vielmehr gestaltet er einen Mix aus beidem. Wenn er sich etwas vornimmt, dazu zählen allerdings keine gigantischen Projekte, dann schafft er es, allein indem er sich im Inneren dazu bringt. So meint er, wenn ich innerlich mit meinen Füßen kommuniziere, sollten auch die Schmerzen in den Blasen nachlassen. Ich zweifle immer noch ein wenig die medizinische Wirkung dessen an, aber in gewisser Weise hat er Recht: vieles ist eine Kopfsache. Schmerzen lassen sich bis zu einem bestimmten Grad unterdrücken, die Schmerzgrenze kann durch Übung angehoben werden. Der gestrige Weg nach Logroño war ein Höllenritt, trotzdem habe ich es geschafft und war am Ende gut gelaunt und in der Lage durch die Stadt zu laufen. In solchen Fällen muss ich mich selbst dazu zwingen, die Zähne zusammen beißen und mich Schritt für Schritt vorwärts treiben. Man könnte sagen, ich bekämpfe meinen eigenen Körper, er hat mir zu gehorchen und sich meinem Willen unterzuordnen. Das ist für mich persönlich der tiefere Sinn des Jakobsweges, dass ich meine eigenen Grenzen kennen lerne und sie auch mal überschreite. Im Prinzip kann jeder diesen Weg auf sich nehmen, es ist vorrangig eine Frage des Willens, auf die Kondition kommt es gar nicht so sehr an, es geht eigentlich nicht darum möglichst viele Kilometer am Tag zu laufen, die Aufgabe ist es, sie überhaupt zu laufen, egal wie lange es dauert. Jeden Morgen muss man sich aus dem Bett und hinaus in die Dunkelheit quälen, sobald man eine längere Pause gemacht hat, will der Körper nicht mehr weiterlaufen und an dieser Stelle muss man gegen die aufkommenden Fußschmerzen ankämpfen, die nach wenigen Minuten wieder verschwinden.
Judith und Ich |
In Ventosa trennen sich unsere Wege, Harry gefällt der Ort und er überlegt, hier zu bleiben, das gehört zu seinen Bauchentscheidungen dazu. Ich mache hier meine große Pause und stoße kurz hinter dem Ort wieder auf Eric und Judith, die ich lange zuvor überholt hatte. Deren Tempo gefällt mir viel besser, wir durchqueren das „Tal der tausend Steinmännchen“, wie es Hape Kerkeling bezeichnet hat. An dieser Stelle sollte ich diesen Brauch kurz erläutern. Viele Pilger lesen kleine Steine vom Boden auf oder bringen diese auch von zu Hause mit. An einem geeigneten Ort werden diese abgelegt, daraus entstehen Kunstformen, weil die Steine meist übereinander gebaut werden und so zu winzigen Steintürmchen werden, ich habe mir die englische Entsprechung Cairn angewöhnt. Das „Tal der tausend Steinmännchen“ ist in Wahrheit viel kleiner und noch nicht einmal ein Tal, es geht nämlich ordentlich bergauf, sehenswert ist es dennoch, links und rechts vom Weg sind sehr sehr viele dieser Cairns errichtet worden. Der Weg setzt sich durch die Weinfelder fort, die hier recht hoch wachsen und unglaublich köstliche Trauben liefern. Singend kommen wir in Najera an, überqueren das idyllische Flusstal und finden schließlich in die Herberge, die wie ein Motel aus einem schlechten US-amerikanischen Roadmovie aussieht.
In der Herberge gibt es ein massives Wasserproblem, beim Spülen „müssen Sie mit dem Wassereimer und der Saugglocke improvisieren“, verkündet der Herbergsbesitzer. Es gibt einen riesigen Schlafsaal, in dem über 50 Etagenbetten stehen, wir krallen uns eins am Fenster, denn nachts wird mit Sicherheit schnell die Luft knapp.
Der Najerilla? |
Eric verschwindet zu einer Massetherapie und kehrt danach als neuer Mensch mit einem langen blauen Tape auf seinem Schienbein zurück, das seine Muskulatur unterstützen soll. In der Apotheke spendiert er eine Runde Blasenpflaster für die Hacken, Compeed bietet die für jede Fußregion an. Jetzt mag jemand vielleicht denken, dass es vielleicht sinnlos wäre, aber nein, das normale Blasenpflaster schmiegt sich schlecht am Hacken an. Heute habe ich es von meinem Fuß wegoperiert, weil es teilweise noch an der Haut klebte. Mein Tape habe ich verloren, der Französisch-Kanadier Ivan schenkt mir 1 ½ Meter von seinem Tape, damit hat er sich massenhaft eingedeckt.
Als Wiedergutmachung geht die erste Runde Wein heute auf mich, serviert wird ein roter Rioja, dessen Namen ich mir leider nicht notiert habe. Er schmeckt vorzüglich, man kann sogar den Geschmack von Trauben erkennen.
Wen treffe ich in der Herberge? Natürlich Harry und Bill, Harry wollte doch nicht in Ventosa bleiben und ist hier auf Bill gestoßen.
Die Gründung von Nájera
Abendstimmung zum Wein |
An der Stelle, wo sich das heutige Nájera befindet, gab es vor 1000 noch nichts. Der navarrische König García III. befand sich gerade auf der Rebhuhnjagd, gemäß der arabischen Art wurden dabei Jagdfalken eingesetzt. Der Falke und das Rebhuhn verschwanden jedoch in einer Höhle am Prallhang des Flusses Najerilla. Der König folgte den Tieren hinein, dort fand er sie friedlich zu den Füßen einer Marienstatue. Dem Madonnenwunder folgend, stiftete der König an dieser Stelle das Benediktinerkloster Santa María La Real, in dessen Umgebung allmählich die Stadt Nájera erwuchs.
zurückgelegte Strecke: 194 km