Dienstag, 29. November 2011

Tag 7 5.9. Der Lehrer

Von Logroño nach Najera (29 km)
Gestern Abend vor dem Schlafen gehen habe ich der Mannschaft verkündet, dass ich 5 Uhr aufstehen werde, um den heißen Tag zu umgehen. Judith und Eric sind sofort mit dabei, wir schlafen zwar gerne aus, aber wir kommen auch gerne früh in einer Herberge an, um so mehr Zeit zum Ausruhen und zur Stadtbesichtigung zu haben.
Wir stehen also um 5 Uhr auf und sind die ersten, damit wecken wir anscheinend den Rest des Schlafsaales, einige murmeln uns muffelig entgegen. Bernard brummt nur in sein Kissen, dass ihn keine zehn Pferde jetzt zum Aufstehen bewegen können.
Harry liegt flach und starr wie eine Statue in seinem Bett, ähnlich wie Bill Murray in "Und täglich grüßt das Murmeltier". Hat er die ganze Nacht so gelegen, ohne sich zu bewegen? Als meine Uhr klingelte, wurde er ebenfalls wach und schlug die Augen auf, als ich mich aus dem Bett schwang.
"Is it five, Christian?", fragte er mich mit tänzelnder Zunge, sein irischer Akzent ist einfach goldig. Er hat keinen Schlafsack, schläft in Wandermontour und muss sich nur noch die Schuhe anziehen, er ist sofort hellwach oder er braucht keinen Schlaf und legt sich jede Nacht nur hin, um nicht aufzufallen. Aber dieses Mysterium geht wohl zu weit.
Zu dritt ziehen wir also los durch das noch schlafende und dunkle Logroño, kurz vor dem Ende der Stadt treffen wir wieder auf Harry, der sich sehr an meiner funktionierenden Taschenlampe erfreut. An dieser Stelle teilen wir uns auf, Judith und Eric gehen voran, meiner Blase geht es zwar besser, aber ich muss immer noch langsam laufen, Harry passt sich meinem Tempo an.
Wie wir so durch die Morgendämmerung streifen, versuchen wir für mich einen Wanderstock zu finden, Harry hat bereits einen recht kurzen. Plötzlich verschwindet er im Unterholz und reißt hübsch aussehende Stöcker von den abgesägten Bäumen, es ist eigentlich kein guter darunter, aber ein schlechter ist erst einmal besser als keiner. Dieses Provisorium drückt er mir mit überzeugter Miene in die Hand.
Hinter wenigen Kurven auf einer Lichtung erwartet uns eine hübsche Überraschung. Dort steht ein verlassener, überdachter Unterstand, bestückt mit Keksen, Äpfeln und einem großen Fass voll mit Stöckern. Ich gönne mir gleich zwei und habe danach das Gefühl über die Erde zu fliegen. Die Schmerzen an der Blase verschwinden allmählich, die Stöcker erfüllen ihren Zweck.
Die ganze Zeit unterhalte ich mich mit Harry, zuerst über die irische Geschichte, anschließend über die deutsche und schließlich enden wir bei der europäischen Finanzpolitik. Ich habe keine Ahnung, wie wir dahin gekommen sind, es hat sich wohl im Verlauf des Gesprächs entwickelt.
Im Tal der tausend Steinmännchen
(http://www.hardcastle.de/pilger022.gif)
Die Entwicklung endet bei dem Thema Meditation, Harry war Indien, Nepal und Thailand und ist von den Mönchen in Meditation unterwiesen worden. Das mag in diesem Moment hochtrabend und wie im Film klingen, aber Harrys Wesensart spricht dafür, er ist ein spiritueller Mensch, ein wenig zu spirituell für meinen Geschmack. Das macht ihn nicht minder freundlich, nur kann er mich mit Meditation und Spiritualismus nicht begeistern, trotzdem lausche ich neugierig wie ein kleiner Junge seinen Ausführungen. Harry entscheidet meistens aus dem Bauch heraus und ist aufs Äußerste instinktiv. Man könnte sagen, er läuft mit seiner Nase, was er stets betont, der Beweis dafür bietet sich buchstäblich in Navarette, das wir pünktlich zur Öffnung der Geschäfte durchqueren. Beim Reden kommen wir etwas vom Weg ab und stehen plötzlich mitten in einer Straßenbaustelle. An der Straßenseite gibt es mehrere Bäckereien, aus einer kommen uns bezaubernde frische Düfte entgegen, Harry nimmt die Witterung auf und wir besorgen uns jeder das beste, leckerste und frischste Baguette, das mir jemals untergekommen ist. Als zweites Frühstück gönnt er sich Kaffee und ich ein Schokobrötchen, das in Spanien Napolitana heißt.

Judith und Eric, verglichen mit einem Weinfeld
Harry erzählt mir von seiner Lebenseinstellung, für ihn ist alles eine Frage der Gedanken und des Geistes. Er geht die Sache weder streng wissenschaftlich noch streng philosophisch an, vielmehr gestaltet er einen Mix aus beidem. Wenn er sich etwas vornimmt, dazu zählen allerdings keine gigantischen Projekte, dann schafft er es, allein indem er sich im Inneren dazu bringt. So meint er, wenn ich innerlich mit meinen Füßen kommuniziere, sollten auch die Schmerzen in den Blasen nachlassen. Ich zweifle immer noch ein wenig die medizinische Wirkung dessen an, aber in gewisser Weise hat er Recht: vieles ist eine Kopfsache. Schmerzen lassen sich bis zu einem bestimmten Grad unterdrücken, die Schmerzgrenze kann durch Übung angehoben werden. Der gestrige Weg nach Logroño war ein Höllenritt, trotzdem habe ich es geschafft und war am Ende gut gelaunt und in der Lage durch die Stadt zu laufen. In solchen Fällen muss ich mich selbst dazu zwingen, die Zähne zusammen beißen und mich Schritt für Schritt vorwärts treiben. Man könnte sagen, ich bekämpfe meinen eigenen Körper, er hat mir zu gehorchen und sich meinem Willen unterzuordnen. Das ist für mich persönlich der tiefere Sinn des Jakobsweges, dass ich meine eigenen Grenzen kennen lerne und sie auch mal überschreite. Im Prinzip kann jeder diesen Weg auf sich nehmen, es ist vorrangig eine Frage des Willens, auf die Kondition kommt es gar nicht so sehr an, es geht eigentlich nicht darum möglichst viele Kilometer am Tag zu laufen, die Aufgabe ist es, sie überhaupt zu laufen, egal wie lange es dauert. Jeden Morgen muss man sich aus dem Bett und hinaus in die Dunkelheit quälen, sobald man eine längere Pause gemacht hat, will der Körper nicht mehr weiterlaufen und an dieser Stelle muss man gegen die aufkommenden Fußschmerzen ankämpfen, die nach wenigen Minuten wieder verschwinden.
Judith und Ich
In Ventosa trennen sich unsere Wege, Harry gefällt der Ort und er überlegt, hier zu bleiben, das gehört zu seinen Bauchentscheidungen dazu. Ich mache hier meine große Pause und stoße kurz hinter dem Ort wieder auf Eric und Judith, die ich lange zuvor überholt hatte. Deren Tempo gefällt mir viel besser, wir durchqueren das „Tal der tausend Steinmännchen“, wie es Hape Kerkeling bezeichnet hat. An dieser Stelle sollte ich diesen Brauch kurz erläutern. Viele Pilger lesen kleine Steine vom Boden auf oder bringen diese auch von zu Hause mit. An einem geeigneten Ort werden diese abgelegt, daraus entstehen Kunstformen, weil die Steine meist übereinander gebaut werden und so zu winzigen Steintürmchen werden, ich habe mir die englische Entsprechung Cairn angewöhnt. Das „Tal der tausend Steinmännchen“ ist in Wahrheit viel kleiner und noch nicht einmal ein Tal, es geht nämlich ordentlich bergauf, sehenswert ist es dennoch, links und rechts vom Weg sind sehr sehr viele dieser Cairns errichtet worden. Der Weg setzt sich durch die Weinfelder fort, die hier recht hoch wachsen und unglaublich köstliche Trauben liefern. Singend kommen wir in Najera an, überqueren das idyllische Flusstal und finden schließlich in die Herberge, die wie ein Motel aus einem schlechten US-amerikanischen Roadmovie aussieht.
In der Herberge gibt es ein massives Wasserproblem, beim Spülen „müssen Sie mit dem Wassereimer und der Saugglocke improvisieren“, verkündet der Herbergsbesitzer. Es gibt einen riesigen Schlafsaal, in dem über 50 Etagenbetten stehen, wir krallen uns eins am Fenster, denn nachts wird mit Sicherheit schnell die Luft knapp.
Der Najerilla?
Eric verschwindet zu einer Massetherapie und kehrt danach als neuer Mensch mit einem langen blauen Tape auf seinem Schienbein zurück, das seine Muskulatur unterstützen soll. In der Apotheke spendiert er eine Runde Blasenpflaster für die Hacken, Compeed bietet die für jede Fußregion an. Jetzt mag jemand vielleicht denken, dass es vielleicht sinnlos wäre, aber nein, das normale Blasenpflaster schmiegt sich schlecht am Hacken an. Heute habe ich es von meinem Fuß wegoperiert, weil es teilweise noch an der Haut klebte. Mein Tape habe ich verloren, der Französisch-Kanadier Ivan schenkt mir 1 ½ Meter von seinem Tape, damit hat er sich massenhaft eingedeckt.
Als Wiedergutmachung geht die erste Runde Wein heute auf mich, serviert wird ein roter Rioja, dessen Namen ich mir leider nicht notiert habe. Er schmeckt vorzüglich, man kann sogar den Geschmack von Trauben erkennen.
Wen treffe ich in der Herberge? Natürlich Harry und Bill, Harry wollte doch nicht in Ventosa bleiben und ist hier auf Bill gestoßen.

Die Gründung von Nájera
Abendstimmung zum Wein
An der Stelle, wo sich das heutige Nájera befindet, gab es vor 1000 noch nichts. Der navarrische König García III. befand sich gerade auf der Rebhuhnjagd, gemäß der arabischen Art wurden dabei Jagdfalken eingesetzt. Der Falke und das Rebhuhn verschwanden jedoch in einer Höhle am Prallhang des Flusses Najerilla. Der König folgte den Tieren hinein, dort fand er sie friedlich zu den Füßen einer Marienstatue. Dem Madonnenwunder folgend, stiftete der König an dieser Stelle das Benediktinerkloster Santa María La Real, in dessen Umgebung allmählich die Stadt Nájera erwuchs.

zurückgelegte Strecke: 194 km

Sonntag, 27. November 2011

Tag 6 4.9. Der Wanderzirkus


Von Los Arcos nach Logroño (28 km)
Wie man so schön sagt, herrschen in fremden Ländern fremde Sitten. Mit den Menschen scheint es genauso zu sein. Bisher bin ich möglichst früh aufgestanden, einerseits, um ebenso früh in der Herberge zu sein, freie Bettenwahl ist etwas Tolles. Und andererseits, um der Mittagshitze zu entgehen.
Heute geht es aber nicht nach mir. Wir stehen um 8 auf, normalerweise wäre ich um diese Uhrzeit schon zwei Stunden unterwegs. Ebenso neu ist das morgendliche Dehnen, was auch sehr angenehm ist. Unsere Muskeln werden jeden Tag durch die vielen Kilometer verkürzt, Dehnen hilft dagegen, aber ich habe bisher keinen Gedanken daran verschwendet. Eric hat eine sehr große Blase an seiner Fußsohle, hier lerne ich auch die Essenz der Blasenbehandlung kennen. Mit Nadel und Faden durchsticht er die Blase und zieht den Faden durch. Dadurch kann das Wasser ablaufen und die Wunde sich nicht mehr schließen. Hier sei angemerkt, dass der eingeführte Faden enorm brennt, man sollte ihn vorher desinfizieren, was den Schmerz nicht lindert, aber zumindest den Dreck fernhält.
Eric's chirurgisches Werk
Ein Gutes hat das späte Aufstehen auch, man läuft die ersten Kilometer in der aufgehenden Sonne, gerade in dieser leicht hügeligen und trockenen Landschaft sieht das äußerst eindrucksvoll aus. Jytte hat sich von uns verabschiedet, sie möchte nicht so lange warten.
Bernard, Judith, Eric und ich wandern gemeinsam los. Unser Tempo ist völlig gleich, das finde ich sehr angenehm, mit Anne und Brenda hatte ich da meine Schwierigkeiten. Und noch schöner ist das Schweigen, das wir geschätzte zwei Stunden durchhalten. Niemand hat das Bedürfnis sich mitzuteilen, jeder genießt die ersten Kilometer in der Stille für sich.
Bernard, Judith und Eric, der Schatten ist meiner
Aber meine drei Begleiter brauchen dringend ihren Kaffee, so schön die ruhige Natur auch ist, ohne Koffein machen sie es nicht lange. Die erste Bar hat geschlossen, das nächste Dorf, Torres del Rio, ist nicht weit entfernt und wird zum Pausenort erklärt.
Eric trägt sein T-Shirt die ganze Zeit falsch herum, das ist mir bereits gestern aufgefallen, aber wen kümmert das schon. Für ihn ist es nicht weniger bequem, er hebt sich eben von der Masse ab. Jeder hier ist erschöpft, verschwitzt, hat Blasen oder Schlimmeres und gleichzeitig sind wir doch alle froh, auf dem Camino zu sein, wen stört da schon sein Shirt.
Kunst am Straßenschild
Die Sonne fängt ordentlich an zu heizen, zwar bläst ein beständiger Wind, aber der schafft es nicht die Wärme zu vertreiben. Es ist der Tag der neuen Lektionen: eine neue Art des Abstiegs wurde mir beigebracht. Sobald es bergab geht und der Zustand des Weges es zulässt, joggen wir hinunter, man beugt dabei automatisch die Beine und belastet mehr die Muskeln als die Kniegelenke. Die Blase erfreut sich daran nicht und quält mich mit jedem Schritt mehr, das Biest will mich anscheinend umbringen. 
Eric, Bernard und Judith unterhalten sich die ganze Zeit in Französisch, was liegt näher, es ist immerhin deren Muttersprache. Mein Französisch ist dagegen schmerzhaft eingestaubt, in Frankreich konnte ich noch ein Zugticket oder ein Baguette kaufen, aber mich gewiss nicht unterhalten. Ich versuche zu verstehen, worüber geredet wird, das ist eine spaßige Beschäftigung, wenn ich mich genug konzentriere, kann ich zumindest den Kontext begreifen. Ab und an übersetzt mir jemand das Gesagte ins Englische, damit ich nicht völlig auf der Strecke bleibe.
Wie ein Wanderzirkzus ziehen wir an den anderen Pilgern vorbei, bergab überholen wir zahlreiche Leute, die uns verwirrt hinterher und belustigt schauen, als ob sie sich fragen, welcher Verrückte schon einen Berg runter rennt.
Als große Traube marschieren wir in Viana ein und kommen zu unserer wohlverdienten Mittagspause. Bernard und Judith ziehen los und besorgen das Essen. Eric und ich flanieren im erstbesten Park, mit anderen Worten ein kleines Stück Wiese inklusive Brunnen, legen uns auf das Gras, strecken die Beine in die Luft und diskutieren über klassische Musik. Der Mann hat ein gewaltiges Wissen um die Komponisten der Klassik und ihre Musik, er kennt zahlreiche Opern und andere Konzerte, die er mir allesamt ans Herz legt. So vergeht die Zeit rasant, bis das Essen erscheint: Baguette, Kuchen, Schinken und der Wein, den ich in Irache abgezapft habe.
In Viana wollen wir nicht bleiben, deshalb muss ich zuerst meine Blase behandeln und Wandertauglich machen. Sobald ich meine Schuhe anhabe, reibt es an dem Teufelsding. Mein Plan mit mehr Polsterung die Reibung zu verringern, indem ich ein Taschentuch auf das Pflaster klebe, geht nach hinten los. Es reibt zwar nicht mehr, aber jetzt drückt es umso stärker.
Eine Wolkenbank über Logroño
Durch Viana hindurch fällt es uns schwerer weiterzugehen, denn die Stadt, insbesondere der alte Kern, ist wirklich schön. In den alten Gassen, die von Bars und Restaurants gesäumt sind, ist es voll und belebt, mit unseren bepackten Rucksäcken müssen wir uns wie Schlangen einen Weg durch das Gedränge suchen.
Wenn man Viana verlässt, kann man am Horizont bereits Logroño erkennen, auch wenn es noch weit entfernt liegt. Meine drei Begleiter laufen weit vor mir, ich möchte sie durch mein Humpeln nicht aufhalten und schlage ein nicht ganz so schnelles Tempo ein. Eine deutsche Pilgerin, Susanne, holt mich ein und bietet mir freundlich ein Blasenpflaster an. Leider helfen die mir auch nicht mehr, es muss einfach gehen. Gemeinerweise führt die Straße nicht direkt in die Stadt, sondern erst um einen kleinen Berg herum, Auf- und Abstiege setzen mir zu und machen das Wandern zur Qual.
Beine hoch und ausgeruht: Eric
Jede Qual hat dennoch ein Ende, Logroño überzeugt mich schon beim Eintritt durch ihre Schönheit, breite und lichte Straßen am Fluss entlang, eine hübsche Brücke darüber und kurz vor der Herberge die enge und verwinkelte Altstadt. Vor mir laufen drei Italiener, noch weiter vorne der Rest vom Wanderzirkus, ich beeile mich sie einzuholen. Das war eine gute Entscheidung, die drei haben mir das letzte Bett freigehalten, an der Rezeption der Herberge gab es bereits eine kleine Schlange, dank meiner drei Freunde habe ich einen Schlafplatz bekommen, ansonsten sähe ich jetzt alt aus. Die Herberge ist ziemlich groß, ebenso die Schlafsäle, davor stapeln sich die miefigen Schuhe, für die Betten gibt es Einmal-Bezüge, was ich davon halten soll, weiß ich nicht. Einerseits sorgt dies für eine gewisse Sauberkeit und beugt vielleicht so Bettwanzen vor.  Andererseits, warum sollte man die Betten säubern, wenn es doch Bettbezüge gibt. So kann alles fröhlich verdrecken. Für keine der Versionen habe ich mich bisher entschieden.
Bollwerk des Miefens
Nach dem Duschen wird es Zeit für meine Blasenbehandlung. Das Mistvieh habe ich erst mit einem Blasenpflaster abgeklebt und schließlich weitere Tapes darüber gelegt, um das Pflaster zu schützen, mein Hacken ist also ordentlich einbandagiert. Diese Konstruktion möchte ich aber nicht zerstören, das Pflaster klebt so gut, dass ich wahrscheinlich auch einen Teil der Blasenhaut mitnehmen werde, wenn ich es abziehe. Erics Technik ist mir eine große Hilfe, ich borge mir Nadel und Faden und steche im Blindflug durch die Pflaster. Das geht einfacher als gedacht, wenn man das Ganze in einem flachen Winkel angeht, spürt man schnell aber schmerzlos, wenn man auf gesunde Haut gestoßen ist. Ich ziehe fünf Fäden durch die Pflaster, die Blase ist stark angeschwollen und es entweicht viel Wasser, das allerdings nur schwer durch den dicken Belag kommt, mehrere Fäden helfen hier gut. Am Ende sieht mein Fuß wie ein Wimpel aus.
Eric braucht seinen Schlaf
Eric schläft wie ein Baby in seinem Bett, ich streife durch die Stadt und treffe Bill und Harry wieder. Mit Bill hatte ich als letztes gerechnet, ich hatte ihn schon viel weiter vermutet. Harry ist in Viana an uns vorbeigelaufen, fit wie ein Turnschuh fühlt sich der Ire. Er hatte eine interessante Theorie zu meiner Blase: ein Bein ist stets länger als das andere, deshalb habe ich auch nur am rechten Fuß Beschwerden. Jytte ist ebenfalls in der Herberge.
Um ehrlich zu sein, der Tag war eindrucksvoll und schön, wenn es um die Menschen geht. Aber auf das Wandern bezogen war er grauenvoll und bisher das Schlimmste, was ich überhaupt bisher erlebt hatte.

zurückgelegte Strecke: 165 km

Mittwoch, 23. November 2011

Tag 5 3.9. Vino

Von Puente la Reina nach Los Arcos (44 km)
Anne und Brenda, zwei Glöckner
Um es gleich zu erwähnen, dieser Tag versprach lange nichts Besonderes und war größtenteils ereignislos. Bis…
Okay, zurück zum Anfang. Die ganze Nacht hindurch hat es geregnet, der Boden ist aber dermaßen trocken, dass er jeden Tropfen Wasser aufsaugt und was übrig bleibt, verwandelt sich in Matsch.
Vor dem Aufbruch machen wir uns wetterfest, unter den Regensachen ist es aber bald sehr heiß, also entweder ist man nass und friert oder man schwitzt. Anne und Brenda sehen mit ihren Regencapes aus wie die Zwillingsschwestern des Glöckners von Notre Dame. Die Pfützen auf dem Weg sind ziemlich groß, doch die Schuhe sind sowieso schon eingesaut, sehr schnell tragen wir nicht nur unsere Rucksäcke, sondern auch noch einiges an klebrigem Matsch an unseren Schuhen. In Mañeru halten wir für ein kleines Frühstück in einer Municipal, das sind die öffentlichen Herbergen, diese hier ist auf Spenden basiert.
Danach trenne ich mich von Anne und Brenda, meine Zehen schmerzen enorm und ich kann nicht mit deren Tempo mithalten. Jetzt habe ich endlich auf beide gehört, denn damit lagen sie mir schon gestern in den Ohren. Ich werfe mir eine Schmerztablette ein und laufe gemütlich weiter, so geht es schon besser.
Die Aussicht wird mit jedem Schritt malerischer. Die Erde ist rotbraun, auf den geernteten Getreidefeldern sind nur noch die gelben Halme übrig, der Himmel ist dunkel, aber auf der Unterseite der Wolken kann man jeden Fetzen erkennen. Dem Regen scheinen wir hinterherzulaufen, es ist eigentlich das perfekte Pilgerwetter, nicht heiß, nur ganz leichter Nieselregen, allerdings ist der Schlamm eine Plage.
Photo by Alex Groundwater
Der Weg führt durch Lorca, kein sehr schönes Dorf, aber das kann auch am Regen liegen. Eigentlich bin ich nur auf der Durchreise, in einem Café sehe ich jedoch Anne und Brenda sitzen, die vor dem Regen geflüchtet sind, der jetzt über uns herzieht. Kaum betrete ich das Café, hört es auch schon wieder auf.
Wir gehen bald weiter und es wird immer schlammiger. Am Horizont erkennt man bereits die ersten Ausläufer von Estella an einer Bergflanke, es wirkt nur recht hässlich, wie eine Industriestadt mit alten, schmutzigen Gemäuern und schlechten Straßen.
Wie so oft, hat der Blick um die Ecke einige Überraschungen parat, hinter einer Straßenkurve betrete ich plötzlich den eigentlichen Stadtrand und mit einem Mal wird es schöner. Estella ist eine große und äußerst lebendige Stadt, von außen hätte ich ihr das niemals zugetraut. Mit meinen brockenhaften Spanischkenntnissen frage ich nach dem Postamt, ich muss ein Paket nach Hause schicken. Es sind zwar nur 500 g an Übergewicht aus meinem Rucksack, aber Kleinvieh macht auch Mist. Es gibt auf der Post nur eine Frau, die ein wenig Englisch spricht, sie ist ein wenig älter als ich und hat es anscheinend in der Schule gelernt. Nebenbei bemerkt glaube ich, dass die jungen Spanier heute kein Englisch verpflichtend in der Schule haben, nur die allerwenigsten Spanier verstehen Englisch.
Anne und Brenda wollten mich in der Stadt treffen und mit mir zusammen Mittag essen, wir haben nur keinen Ort ausgemacht. Die Stadt ist ohnehin zu voll, der Kudamm in Berlin ist ein wenig mehr gefüllt, hier finde ich ganz sicher niemanden. Nach meiner Mittagspause muss ich weiter, in Estella wollte ich von Vorneherein nicht bleiben, sondern nach Villamajor de Monjardin.
Der Weinbrunnen des Klosters
Kaum habe ich Estella verlassen, passiere ich die Klosteranlage von Irache. Mein Reiseführer prophezeit einen öffentlichen Weinbrunnen, was ich aber nie ernst genommen habe. Nun werde ich eines besseren belehrt, den Brunnen gibt es wirklich. Neben einem Hahn für Wasser gibt es einen weiteren für Wein, der tatsächlich fließt und obendrein auch noch gut schmeckt. Es ist wie im Schlaraffenland. Man kann leider nicht lange bleiben, der Wein steigt schnell zu Kopf, ich fülle mir besser einen halben Liter für später ab. Das ist normalerweise nicht gestattet, es hält sich trotzdem niemand daran, besonders nicht die Einheimischen. Es gibt sogar eine Webseite des Klosters (http://www.irache.com/index_ale.html), auf der eine Webcam verlinkt ist, irgendwann also hat man mich dort per Kamera beim Umtrunk beobachtet. Die Trauben, aus denen der Wein gemacht wird, sind übrigens auch sehr lecker. Von hier aus ist der Berg von Monjardin mit der alten Burgruine bereits in der Ferne zu erkennen.
Photo by Alex Groundwater
Hier kommt es mir vor, als ob ich eine neue Reisegruppe erreicht habe. Normalerweise kommen einem die Gesichter, die man unterwegs trifft bekannt vor, man hat sich flüchtig in der letzten Herberge oder im gestrigen Dorf gesehen. Hier ist alles neu, völlig neue Menschen, das muss die Nachhut sein, die einen Tag vor mir gestartet ist.
Um 15 Uhr treffe ich in Villamajor zusammen mit einer anderen Pilgerin ein. Die Herberge öffnet erst eine Stunde später, davor warten bereits zwei Frauen aus Frankreich. Niemand ist wirklich gesprächig, wir sind alle sehr erschöpft vom Tag, die Schuhe lüften und die Socken trocknen in der Sonne. 16 Uhr kommt und geht, eine der Französinnen steht auf und streift durch das kleine Dorf. Als sie wiederkommt, verkündet sie uns, dass diese Herberge geschlossen wurde, weil vor geraumer Zeit das Dach eingestürzt ist. Es gibt noch eine weitere Herberge, die hat aber nur noch zwei Plätze. Clever wie sie ist, hat sie die bereits für sich und ihre Freundin augenblicklich reservieren lassen.
In der Herberge sitzen schon Harry der Ire und Harald der Schweizer gemütlich bei einem Bier. Der Besitzerin bleibt nichts übrig als mich zwölf Kilometer weiter nach Los Arcos zu schicken, dort sollte ich mein Glück versuchen und nach einem freien Bett Ausschau halten, hier sei leider nichts mehr zu machen. Selbst der Boden ist mit Isomatten voll belegt.
Ein Bus fährt um die Zeit auch nicht mehr, die Pilgerin von vorhin schließt sich mir an und wir machen uns auf den Weg nach Los Arcos. Ihr Name ist Judith und sie kommt aus Quebec, Kanada. Wenige Hundert Meter hinter dem Dorf sammeln wir zwei weitere Pilger auf, die ebenfalls kein Glück in Villamajor hatten: Jytte aus Dänemark und Bernard aus Frankreich.
Nach eineinhalb Kilometern beim nächsten Brunnen haben wir schon keine Lust mehr, Bernard spricht fließend spanisch und versucht erst in der Herberge anzurufen und vier Betten freizuhalten (was die Spanier aber nicht dulden) und schließlich ein Taxi zu rufen. Nicht weit von uns gibt es zwar eine Schnellstraße, aber keine Auffahrt, Villamajor ist auch schlecht an Los Arcos angebunden, der einzige Ort, der verkehrsgünstig liegt, ist Urbiola. Wir gehen dorthin den Weg zurück. Es sieht sehr verlassen und verschlafen aus, wie immer trügt der erste Eindruck.
Jytte, Ich und Judith
In Urbiola wird nämlich eine übergroße Dorfparty gefeiert. Bernard fragt sich auf Spanisch nach der nächsten Bar durch, übersetzt es Judith auf Französisch, die es Jytte und mir dann in Englisch erzählt. Diese Routine aufzubauen, hat ein wenig gedauert. Jytte und ich standen oft mit fragenden Gesichtern in der Gegend herum, wenn sich Bernard und Judith unterhalten haben, bis der Groschen gefallen ist, dass wir sie nicht verstehen.
An dem Fest nehmen um die 560 Menschen teil, es ist eine Party von vier benachbarten Dörfern, die jedes Jahr am ersten Wochenende im September stattfindet und jedes Jahr wird das Dorf im Turnus gewechselt, nächstes Jahr ist Villamajor de Monjardin an der Reihe. Urbiola liegt abseits des Jakobsweges, wie man uns mitteilt, sind wir demnach die ersten Pilger in dem Dorf, entsprechend feierlich und herzlich werden wir begrüßt. Wir nehmen an der sehr langen Tafel Platz und werden umgehend mit Wein, Limonade, Keksen, Kuchen und Melonen bedient. Alle fragen uns über unsere Reise aus und warum wir ausgerechnet hier gelandet sind. Eine so ausgelassene und frohe Stimmung habe ich selten erlebt, jeder   will unsere Geschichte hören und kurze Zeit später sind wir das Gesprächsthema und in aller Munde.
Die lange Trinktafel in Urbiola
In den Cocktails, die uns hingestellt werden, ist so viel Fruchtsaft, dass man den Rum nicht schmecken kann, die Mixerin scheint die Dorfälteste sein. Bernard regelte alles dank seiner hervorragenden Spanischkünste, wir anderen drei saßen einfach nur da und ließen uns berieseln, ich glaube, wenn wir länger geblieben wären, hätten man uns auf den Tischen tanzen lassen und am Ende noch irgendwo einen Schlafplatz angeboten. Das Taxi lässt auf sich warten, am Rand des Dorfes wird zusätzlich ein professionelles Radrennen veranstaltet, was der Feier noch mehr einheizt. Gegen halb 8 kommt das Taxi im Dorf an, wegen der Absperrungen zum Radrennen musste die Frau wahrscheinlich einen langen Umweg in Kauf nehmen. Kurz vor Los Arcos sammeln wir Eric ein, der den ganzen Weg gelaufen ist. Das hätten wir jetzt eigentlich auch tun können, nur dann hätten wir die grandiose Party verpasst. Eric haben wir auf dem Weg nach Urbiola getroffen, er und Judith kannten sich bereits. Auf ein Taxi hatte er keine Lust, stattdessen ging er zu Fuß weiter. Als erstes hielt ich ihn und Judith für Geschwister, aber zwischen den beiden existiert genauso viel Verwandtschaft wie zwischen Brenda, Anne und mir. Er kommt aus Frankreich, hat Frau und Kinder und betreibt auf eigene Faust ein kleines Möbelhaus, gleich neben seinem eigenen Heim.
Innenraum der Kathedrale von Los Arcos
In der Herberge in Los Arcos sind noch genügend Betten frei, obwohl es schon sehr spät ist. Das ist meine Lektion für heute: es gibt für alles einen Ausweg, auch wenn es nicht im Ansatz danach aussieht. Zwischenzeitlich hatte ich den Drang alleine nach Los Arcos zu laufen, um mir ein Bett zu sichern, ich wusste schließlich nicht, ob die Aktion mit dem Taxi überhaupt funktioniert und ob wir nicht zu viele auf einmal wären. Die Bettenjagd ist aber sinnlos, es gibt immer irgendwo ein Bett. Und falls nicht, habe ich schließlich auch noch meine Isomatte dabei. Ich bin heilfroh, dass ich die vier getroffen habe, der Tag hat eine unglaubliche Wendung genommen.
Jetzt bin ich todmüde und falle wie gesteinigt ins Bett. Meine vier neuen Bekanntschaften ziehen zum Abendessen los und kommen erst spät in der Nacht zurück, als ich schon tief und fest schlafe.

zurückgelegte Strecke: 137 km