Montag, 13. Februar 2012

Die Urkunden

Eine Sache bin ich euch noch schuldig, nämlich die Urkunden.
Die Compostela aus Santiago













Die Compostela aus Finisterre
viel hübscher














Die Stempel im Pilgerausweis...








...und noch mehr...













...und zuletzt

Mittwoch, 8. Februar 2012

Die Tage 30+31 28.9. und 29.9. Wiederbegegnungen

Zurück nach Hause
Anders als gestern Abend verabredet nehme ich nicht den 11, sondern den 8 Uhr Bus zurück nach Santiago. Meine innere Uhr lässt mich nicht mehr länger als bis sieben Uhr schlafen, ich kann gerade noch sehen, wie Luisa, den Rucksack geschultert, das Gemeinschaftszimmer verlässt. Das kommt mir recht vernünftig vor, denn wenn der Bus fährt etwa eineinhalb Stunden, die Zeit verbringe ich lieber in Santiago.
Meine Sachen sind schnell gepackt, Lena und Bernd schlafen bestimmt bis in die Puppen, daher schreibe ich beiden eine Nachricht und hinterlasse die am Frühstückstisch.
An der Bushaltestelle warten genug Pilger, um zwei Fahrzeuge zu füllen. Die Gesellschaft ist bunt gemischt, doch komischwerweise sehe ich hier nur Deutsche. Eine Gruppe von Radpilgern hat die Fahrräder auseinander genommen und jeder Fahrer schlägt sein Rad in Frischhaltefolie ein, um Kratzern vorzubeugen, wie sie mir erzählen. Eine Pilgerin, die nicht viel älter ist, als ich, war denke ich auch in unserer Herberge, sie hat den gestrigen Abend am Weststrand zusammen mit der restlichen Herberge ausklingen lassen und ist jetzt noch betrunken.
Der Bus kommt, Luisa und ich ergattern die letzten Fahrkarten, auf einmal werden wir von den hinten anströmenden Massen getrennt, ich werde in den hinteren Teil des Busses getragen und finde doch tatsächlich noch einen freien Sitzplatz. Luisa kommt nicht zu mir durch und muss sich für die ersten 20 Minuten mit der Treppe begnügen. Im nächsten Dorf, wo wir Halt machen, wird der Sitz neben mir frei und sie kann ihn sich erhaschen.
Wir haben etwa zwei Stunden Zeit bis nach Santiago totzuschlagen, ich habe keinen blassen Schimmer, wo wir überhaupt langfahren, denn die ganze Zeit über sehe ich nur das Meer zu meiner Rechten, dass heißt, wir fahren an der Küste entlang an Süden. Aber irgendwann müssen wir doch mal ins Landesinnere abbiegen?
Luisa hat sich nach der Schule ein Jahr freigenommen und will jetzt mit ihrem Psychologiestudium in Innsbruck beginnen, ihr angestrebter Schwerpunkt ist Verhaltensforschung. Durch ihre Mutter, die in etwa in derselben Richtung arbeitet (sofern ich das richtig in Erinnerung habe) gibt ihr auf diesem Gebiet genug Inspiration. Sehr interessant finde ich ihre Darlegung über Intelligenz und wie man Intelligenztests überhaupt erstellen kann.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fahren wir auf die Autobahn in Richtung Osten und sind 30 Minuten später in Santiago. Ich habe noch die Stadtkarte, die ich vor vier Tagen im Pilgerbüro bekommen habe. Dort ist der Busbahnhof eindeutig eingezeichnet sowie auch der Verlauf des Jakobsweges in der Stadt, von daher ist es ein leichtes zum privaten Herbergsviertel zu finden, nach wenigen Kurven bin ich auch wieder auf den Straßen, die mich damals in die Altstadt getragen, ich muss nur in die andere Richtung gehen. Luisa schlägt sich zur öffentlichen Herberge durch.
Die private Herberge ist ganz nett, auch heute bin ich keine nennenswerte Strecke gelaufen, der Weg zur Uni ist gewiss länger, und trotzdem falle ich müde ins Bett und schlafe für ein Nickerchen ein.
Ich habe heute ein volles Programm, zum einen möchte ich noch einmal die Pilgermesse erleben, zum anderen muss ich noch einige Sachen für zu Hause besorgen. Auf meiner Liste stehen Wein und ein T-Shirt und wenn es sich ergibt, feinster Manchego-Käse, eigentlich der beste Käse, der mir je untergekommen ist.
Zu jedem Wein, der mir auf dem Camino vorgesetzt wurde, sofern er gut geschmeckt hat, habe ich einen Eintrag in mein Tagebuch gemacht, schließlich wüsste ich schon gerne, was ich da kaufe. An meinem ersten Tag in Santiago war ich in einem Weinladen, nur kann ich den nicht mehr finden, selbst als ich mich durchfrage und jede noch so winzige Gasse abklappere, er ist wie vom Erdboden verschluckt. Dazu kommt, dass ich in einem anderen Weinladen jeden Punkt von der Liste abklappere, weder den Pazo de Portico, noch meinen favorierten Rioja-Wein gibt es hier. Am Ende begnüge ich mich mit einer anderen Rioja-Sorte aus dem Supermarkt.
Am Eingang des großen Parks tut sich vor mir ein Wunder auf, dort in einem Café sitzen doch tatsächlich Anne und Brenda. Mir klappt förmlich die Kinnlade herunter und als die beiden mich sehen, brüllen sie mir freudig zu und wir fallen uns lachend in die Arme.
Ich hätte all mein restliches Geld verwettet, dass ich meine beiden irischen Ladies nie mehr wiedersehe. Erneut ist die Regel Nummer zwei bestätigt.
Zusammen mit
Anne und Brenda
Beide sind heute in Santiago eingeritten und werden auch morgen noch hier sein, sie haben sich ein schickes Hotel ausgesucht, das auch nicht weit weg von hier liegt.
Die Kette der Wiederbegegnungen reißt nicht ab, ich muss weiter nach mehr Wein suchen, stattdessen kaufe ich mir die heißbegehrte Santiago-Torte, die in aller Munde ist. Als ich die Bäckerei verlasse, stoße ich auf Eric, meinen Lieblingsfranzosen. Auch er hat heute die Stadt erreicht und hat ebenso noch viel Zeit. Daher wird er morgen nach Muxía und anschließend nach Finisterre laufen, wahrscheinlich auch wieder zurück, aber das möchte er jetzt noch nicht versprechen. Ich lade ihn auf heute Abend zum Essen ein, Anne, Brenda und ich treffen uns natürlich und ich würde mich ungemein freuen, wenn Eric und ebenfalls beehren würde. Zumal er die Iren nie kennen gelernt hat. Aber er winkt ab, er mag sich nicht auf eine Zeit festlegen, falls er uns findet, ist er gerne dabei. Ich glaube, der Camino hat ihn verändert, positiv betrachtet.
Wir verabschieden uns und kaum habe ich mich umgedreht, um weiter meines Weges zu gehen, sehe ich in einer Nische, die zu einem Café gehört, Hans und Norbert. Mit denen hatte ich noch weniger gerechnet, denn sie passen ja noch nicht einmal in das Tempo von Anne, Brenda oder Eric. So viele tolle Zufälle auf einen Haufen sind fast nicht zu ertragen, ich finde doch tatsächlich so gut wie alle Freunde wieder, von denen ich mich vorher trennen musste.
Ich beende meine Einkaufstour mit einem weißen T-Shirt. Die T-Shirts zum Thema Jakobsweg gibt es in Santiago wie Sand am Meer und entsprechend grausig sind die Angebote, ich finde nur wenige, die gut aussehen oder besser gesagt, die ich gut finde. Ich entscheide mich für ein schlichtes weißes Modell, auf dem in schwarz „Santiago de Compostela“ gestickt ist und ein Pilger mit großen Füßen und Wanderstock läuft.
Noch einmal besuche ich die Pilgermesse in der Kathedrale, aber ich bin etwas zu spät und das Weihrauchfass wird auch nicht geschwungen.
Als ich mit Thomas nach Castrojeriz gelaufen bin, hat er mir von einem angeblichen Freimaurersymbol erzählt, dass sich hier in der Kathedrale befinden soll, und unter dem Dach, direkt über der Vierung. Es handelt sich um das Auge in der Pyramide, jeder, der „Illuminati“ von Dan Brown gelesen (oder den Film gesehen) hat, wird über gewisse Verschwörungstheorien im Bilde sein, die hier aber allesamt als nichtig einstufen möchte. Zurück zur Kathedrale: das Symbol befindet sich an der Decke, ein Auge in einer Pyramide, es hat nur nichts mit der Freimaurerei zu tun, nein, besser gesagt, die Freimaurer haben wahrscheinlich nichts damit zu tun, dass es sich hier befindet. Das Symbol ist älter als die Freimaurerei, die etwa im 12. Jahrhundert in England gegründet wurde. Das Auge steht schlicht für das allsehende Auge Gottes, die Pyramide oder das Dreieck (denn meist ist nur die Vorderseite abgebildet) symbolisiert die heilige Dreifaltigkeit. Wie ist nun der Bezug zur Freimaurerei? Die Freimaurer waren ursprünglich christlich orientiert und führten sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts sogar auf die Tempelritter zurück.
Nebenbei gesagt finde ich eben jenes Zeichen auch in einer anderen Kirche wieder, meiner Meinung nach ist jegliche Verschwörungstheorie zu diesem Thema völlig überspitzt.
Jaja, die Freimaurer

Der Abend mit den beiden Frauen gestaltet sich famos. Wir sitzen am Eingang zum Stadtpark und haben uns den letzten freien Tisch ergattert, ob hier Pilger sind, lässt sich nicht eindeutig sagen. Ich vermute mehr, dass wir mitten in einem Studentenmeer sitzen, denn neben den Pilgern ist die vierte inoffizielle Macht in Santiago die große Studentenschaft.
Anne schwört Stein und Bein hinter Pedrouzou den Schauspieler John Malkovich gesehen zu haben, in einer fest zugeschnürten Regenjacke. Sofort schießt mir das Bild durch den Kopf, John Malkovich in „ConAir“ als Anführer eines Gefangenenausbruchs und er trägt eine zugeschnürte grüne Jacke, die Kapuze sitzt tief im Gesicht und zum Schutz vor dem Sandsturm hat er eine Schutzbrille aufgesetzt.
Ich kann das leider nicht bestätigen, nur Anne hat ihn angeblich gesehen, von daher wird es in die Mysterien des Camino eingehen. Aber schick finde ich die Vorstellung schon, dass sich ein international bekannter Schauspieler allein auf den Jakobsweg begibt.
Als ich zu meiner Herberge zurück gehe, werde ich von einem Man aufgehalten, der sich als Mormone entpuppt und mich in ein Gespräch über die „Kirche Jesu Christi“ verwickelt. Er fragt mich nach meiner Einstellung zum Christentum aus, normalerweise halte ich nichts von diesen Straßengesprächen, aber heute mache ich eine Ausnahme und antworte ihm, dass ich keiner Religion angehöre und das auch nicht ändern werde. Und bevor er neu ansetzen kann, um mich vielleicht doch noch auf die Seite Gottes zu ziehen, füge ich hinzu, dass ich gestern den Jakobsweg beendet habe.
Seine Augen weiten sich und mit einem Mal verwandelt er sich und spricht mit mir über den Camino. Ich glaube, jetzt ist es ihm egal, ob ich konfessionslos bin oder nicht, ob meine Seele nun auf ewig verloren ist oder nicht, er zeigt sich sehr interessiert, dass ich den Camino gelaufen bin. Ein weiterer Mormone kreuzt unseren Weg, mein Gesprächspartner zieht ihn herüber und erzählt ihm alles.
„Ja, das wundert mich nicht“, sagt dieser und deutet auf meine nackten Füße in meinen Badelatschen. „Deine Zehen sind mit Pflastern übersät.“
Recht hat er. Wir unterhalten uns noch ein wenig mehr, er drückt mir einen Flyer zur spanischen Mormonengemeinde in die Hand und wünscht mir alles Gute.
Ich glaube er weiß, dass er meine Einstellung nicht ändern kann, aber informieren kann er mich ja trotzdem und mir gefällt, dass er seine Werbung hinter den Camino gestellt hat.

Die folgende Nacht schlafe ich nicht sehr viel. Trotz des Oropax in meinen Ohren, kann ich den Typen unter mir einfach nicht ausblenden. Der Kerl schnarcht bestialisch das ganze Zimmer zusammen und sägt den halben Wald ab.
Mein Flug geht erst am Nachmittag und die Uhr schlägt gerade sieben. Es gibt einen Bus, der die Pilger zum Flughafen fährt, aber auf den habe ich keine Lust, ich habe so viele Stunden Zeit, dass ich auch zum Flughafen laufen kann. Im Foyer entleere ich meinen Rucksack und muss leider das aufgehobene Essen wegwerfen, zumindest Wurst und Käse, denn die sind nicht mehr gut, das Brot kann ich verschenken, zumindest das, was nicht zum Frühstück verputzt wurde. Eine französische Pilgerin schenkt mir zudem ein Napolitana, sie hat sich gestern eine große Packung davon gekauft und kann das nicht allein essen, wie sie mir erzählt.
Gut gesättigt trete ich den Rückweg an, während mir die Pilger entgegen kommen, die wohl in Monte de Gozo genächtigt haben.
Galicien möchte sich würdig von mir verabschieden und schickt regnerisches Wetter. Hinter der Zentrale des galicischen Fernsehens habe ich erneut eine Erscheinung. Da läuft mir das Ehepaar aus Grañon entgegen, der Mann hat unglaubliche Flamenco-Stücke auf der Gitarre zum Besten gegeben. Des Weiteren kreuzen Steven, Sandra und der Rest der Gruppe aus Pamplona meinen Weg. Wir fallen aus allen Wolken, wir haben uns einmal am dritten Tag der Reise gesehen, danach aus den Augen verloren und jetzt treffen wir uns wieder. Steve schlägt beinahe Purzelbäume, als ich ihm sage, dass Anne und Brenda heute ebenfalls in der Stadt sind. Ihnen folgt die Südafrikanerin aus Puente la Reina, die das Foto geschossen hat, das mich beim Tagebuchschreiben zeigt.
Ich hätte mich sehr gefreut, wenn hier auch noch Jytte gewesen wäre, nur leider taucht sie nicht auf, das hätte alles komplett gemacht.
Der Flughafen liegt hinter dem Ort Lavacolla, der Jakobsweg schneidet die Landebahn nur ganz kurz, aber wenn man in Lavacolla auf die Hauptstraße wechselt und Richtung Autobahn im Osten läuft, kommt man unweigerlich zum Parkplatz des Flughafens und schließlich zum Terminal. Es ist jetzt 11 Uhr, mir bleiben noch vier Stunden Zeit. Ich setze mich in das Terminalcafé und schreibe den letzten Brief an meine Freundin weiter. Es stoßen noch drei deutsche Pilger zu mir, die ebenfalls vorgestern in der gleichen Herberge in Finisterre waren wie ich. In unserem Flieger sind sowieso nur Deutsche, die Maschine fliegt nach Frankfurt Hahn. Und ich glaube, ich habe ein gewaltiges Problem. Meine Zugfahrkarte gilt eineinhalb Stunden nach der Landung vom Flughafen Frankfurt am Main, das dieser gut 150 km von Frankfurt Hahn entfernt liegt, wusste ich nicht. Das wird schwer, pünktlich zu sein.
Am Flugsteig hat sich eine monströse Schlange gebildet, aus Gruppenzwang stellen sich wahrscheinlich alle dort an, aber unser Flugsteig liegt dahinter, dazu muss man um die Ecke sehen. Das haben wir vorher nicht bemerkt und wären wahrscheinlich erst spät darauf gekommen, aber nachdem ich die anderen darauf hingewiesen habe, zeigen sie sich erleichtert der endlosen Schlange entfliehen zu können.
Als sich unser Gate öffnet, springen plötzlich alle von ihren Sitzen auf und müssen sofort wieder stehen bleiben, denn nur, weil die Kartenkontrolleure ihren Platz einnehmen, kann noch lange niemand durch, erst wenn es das OK durchs Telefon gibt, und das zieht sich hin.
Eva erscheint hier ebenfalls und setzt sich neben mich. Kurzum: der Flieger hebt ab und landet heil und sicher in Frankfurt Hahn. Vor diesem Zwergflughafen fährt ein Shuttlebus zum Flughafen Frankfurt International und gerade vor mir hat sich jemand das letzte Ticket ergattert. Der nächste Bus fährt erst in einer halben Stunde, so schaffe ich es niemals rechtzeitig zum Hauptbahnhof, mein Zug wird ohne mich abfahren und die Fahrkarte ist dahin. Im Bus kann mir ein Pilger über sein Telefon eine Verbindung über das Internet suchen, der letzte Zug nach Berlin verlässt den Bahnhof gegen 20:52, wir kommen aber erst um neun dort an. Im Reisezentrum kann man mir meine Fahrkarte nicht erstatten, denn es ist ja nicht die Schuld der Bahn, dass ich zu spät gekommen bin, sondern es liegt eher an meiner eigenen Blödheit. Der nächste Zug nach Berlin geht um 1 Uhr vom Südbahnhof, ein Ticket bekomme ich nicht, denn eigentlich ist dort kein Platz mehr, aber ich soll mein Glück versuchen, vielleicht ist bis dahin einer frei geworden. Also mache ich mich auf den Weg zum Südbahnhof, da ich viele Stunden Zeit habe, kann ich auch dorthin laufen, so kann ich gleich ein wenig von Frankfurt bei Nacht genießen, am Main gefällt es mir besonders.
Der Zug um 1 Uhr ist restlos überfüllt, der Schaffner lässt mich nicht hinein und meine letzte Hoffnung vor Betriebsschluss ist gestorben. Am Fahrkartenautomat kaufe ich mir für schlappe 100 € ein neues Ticket, dass es dermaßen teuer ist, hätte ich nicht erwartet, aber was soll ich machen, irgendwie muss ich schließlich nach Hause kommen. Der Zug geht um vier und diesmal habe ich eine Fahrkarte. Die folgenden drei Stunden verbringe ich in einem Zustand zwischen Schlaf, Dämmrigkeit und Wachheit. Draußen auf dem Bahnsteig ist es erstens sehr kalt und zweitens sehr laut, da andauernd Güterzüge vorbeirauschen. Ich setze mich auf die Treppe der U-Bahn, dort ist es schon etwas wärmer und mache für eine halbe Stunde die Augen zu. Den Rucksack setze ich nicht ab, ich traue der Welt nicht über den Weg, erst recht nicht nachts. Ich bin auch nicht sehr froh darüber, dass ausgerechnet der Bahnhof für drei Stunden mein Quartier ist, aber eine andere Wahl bleibt mir auch nicht.
Kaum bin ich wieder in Deutschland geht alles schief. Die Erfahrung will ich nie wieder machen, vielen Dank. Die Nacht hat jäh ein Ende, als es endlich vier Uhr ist und der ICE einrollt. Ich muss zwei Mal umsteigen und stelle mir vorsichtshalber meine Uhr und schlafe für ein paar Minuten.
Um neun fahren wir am Berliner Hauptbahnhof ein, endlich bin ich wieder zu Hause und falle zu Hause tot in mein Bett, um mich mal so richtig auszuschlafen.
Die Reise ist hier zu Ende, ich wollte den Camino abwandern und dies habe ich nun getan. Die nächste Etappe kann kommen.

Tag 29 27.9. Das Ende der Welt

Von Cee zum Kap de Finisterre (15 km)
Die Reise endet, wie sie begonnen hat, als ich meinen Rucksack im weitgehend lichtlosen Schlafsaal packe, die Taschenlampe zwischen meinen Zähnen, fällt meine metallene Trinkflasche scheppernd zu Boden und rollt auf den Fließen durch das Zimmer. Wenn durch den Lärm auch nicht der letzte Schlafende erwacht ist, ist er oder sie vermutlich bereits tot.
Im Vorraum, das man dezent auch Foyer nennen kann, sitzt bereits Luisa, sie war auch schon vorgestern in der Herberge in Vilaserio. Sie, ihre Freundin, Lena, Bernd und ich brechen gemeinsam zu den letzten 15 Kilometern auf. Effektiv betrachtet, sind es nur zwölf bis nach Finisterre, aber die Entfernung zum Kap muss sowieso jeder laufen.
Bernd, Lena und ich am Strand
Obwohl wir uns schon am Meer befinden, müssen wir wieder bergauf steigen, dieser Trugschluss besteht jedoch nur eine kurze Zeit, denn nachdem wir uns durch eine enge und stockfinstere Gasse gequetscht haben, stehen wir mitten auf der, vom Nebel beherrschten Landstraße. Luisa packt ihre Lampe aus und leuchtet den uns entgegen kommenden Autos, damit wir nicht über den Haufen gefahren werden. Bald sind wir nur noch zu dritt, denn Lena und Bernd wünschen sich einen Kaffee und ich schließe mich bereitwillig dem zweiten Frühstück an. Nur hat das Café noch nicht geöffnet.
Kurze Zeit später, als wir uns wieder auf dem Pfad befinden, können wir das Meer riechen, im Nebel kann man leider keine zehn Meter weit schauen. Aber bald verlassen wir auch die Landstraße, das Meer ist nun auch zu hören, bald ebenfalls zu sehen. In diesem Augenblick führt der Camino neben dem Strand entlang, aber welcher Pilger läuft einen betonierten Weg, wenn er auch das sandige Ufer haben kann? Immer noch vom Nebel bedeckt, zieht sich der Strand endlos dahin, wir finden einige originale Jakobsmuscheln, ich wüsste schon gerne, ob die an meinem Rucksack echt ist.
Der einzige Nachteil fernab des Weges ist, dass wir nicht wissen, wann wir in Finisterre sind, vorsichtshalber schwenken wir nach gefühlten zwei Kilometern auf den Betonweg um und besser noch auf die dahinter liegende Straße, die uns auch fünf Minuten später nach Finisterre führt. Da wir uns in Galicien befinden, steht auf dem Ortsschild der galicische Name „Fisterra“, im spanischen heißt es dagegen Finisterra, was mir persönlich besser gefällt.
Hinab zur Todesbrandung
Finisterre kommt eine besondere geschichtliche Bedeutung hinzu. Wie es der Name vermuten lässt (jene mit Lateinkenntnissen sind im Vorteil) übersetzt sich Finis-terre zu „Ende der Welt“. Im Mittelalter galt das Kap von Finisterre als der westlichste Punkt der damals bekannten Welt und markiert so den letzten Flecken feste Erde, bevor es auf dem großen Ozean zum Rand der Scheibe ging. Der Camino de Finisterre ist ebenso alt wie der Camino de Santiago. Ein großer Teil der Pilger nahm nach der erfolgreichen Beendigung des Jakobsweges auch noch den Sternenweg auf sich, die Motivation ist weniger an einen Heiligen gebunden, vielmehr geht es hierbei um die Auseinandersetzung mit dem Tod, nicht zuletzt, weil hinter dem endlosen Meer die aus keltischen Sagen bekannte Insel der Seligen liegt.
Irgendwo in Finisterre wartet auf uns erst einmal ein Bett. Wir sind früh dran, die öffentliche Herberge hat noch lange nicht offen, aber es gibt eine private, die gut geführt ist, dort krallen wir uns ein Bett, auch wenn erst noch geputzt werden muss, bevor wir es beziehen können. In der Zeit verkoche ich alles, was ich habe, danach bleibt keine Zeit zum Ausruhen. Schnurstracks breche ich zum Kap auf, das sind etwa zwei Kilometer auf der kurvigen, eigentlich nur von Fußgängern beherrschten Landstraße, die am Leuchtturm endet. Diesen umrundet man und schon steht man auf dem Kapfelsen, 20 m darunter liegt das Meer.
Wenige Bräuche konnten sich bis heute erhalten, die meisten beziehen sich auf Finisterre, hier ist die Reise für’s erste beendet, es sei denn, man möchte den Rückweg zu Fuß antreten, was früher allgegenwärtiger war als heute.
Das Ende meiner Stöcker...
In Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Ende der Welt ergibt sich, dass man nach diesem Tag zu einem neuen Menschen wird. Am Kap ist es Sitte die Kleidung zu verbrennen, als Symbol für den Abschluss des alten Lebens (manche halten es auch so, dass sie damit alle Bettwanzen dem Feuertod überlassen). Das verbrennen am Kap, wo sich der Leuchtturm befindet, ist heutzutage leider untersagt. Es sind zur Überwachung mehrere Kameras installiert und die spanische Polizei geht rüde zu Werke, nichtsdestotrotz findet man überall Brandflecken und Aschehaufen an den Felsen.
Ein weiteres Ritual ist die Waschung in der Todesbrandung, der Name ist restlos übertrieben. Dazu begibt man sich zum Kap hinab, die Stelle ist nicht zu übersehen, nur dort kann man das Wasser adäquat erreichen.
...und einiger Klamotten
Ich bin nicht der erste, der dies versucht, die wenigen Pflanzen, die hier wachsen können sind platt getreten, mit viel Fantasie kann man von einem Pfad sprechen. Der endet aber dort, wo man klettern muss, steil führt der Weh nach unten auf eine Art Plattform. An windigen Tagen brechen die Wellen weit die Felsen hinauf, schnappen sich alles, was nicht niet- und nagelfest ist und zerren es ins Meer zurück, um es wenig später erneut auf die Felsen zu schmeißen. Heute weht kein Lüftchen, daher wird die Todesbrandung ihrem Namen nicht gerecht. Der Plan ist, sich das Gesicht zu waschen ohne, dass mich die Welle erwischt.
Nachdem ich die Wand wieder erklommen habe, muss ich zurück zur Herberge, heute gilt es ein straffes Programm durchzuziehen und die Zeit rast unermüdlich dahin. In der Herberge kann ich Bernd und Lena nicht finden, vielleicht sind sie schon zum Strand gegangen. Dort will ich meine Sachen verbrennen und meine Wanderstöcker loswerden.
Wir drei am 0-km-Stein
Die öffentliche Herberge hat mittlerweile ihre Tore geöffnet, für alle ist sie ein wichtiger Angelpunkt, denn hier erhalte ich die zweite Compostela, Voraussetzung ist natürlich die erste aus Santiago. Ich muss sagen, diese hier sieht wesentlich hübscher aus, sie bescheinigt, dass ich von Santiago den Weg hierher angetreten habe.
Auf zum Strand…
In der Böschung suche ich mir ein ruhiges und abgeschiedenes Plätzchen, ich hab noch das Feuerzeug, das mir Jan in Larrasoaña geschenkt hat. Es müssen mein Hut und ein fürchterlich abgetragenes Hemd daran glauben, beide Sachen brennen lichterloh, die Flammen schlagen ziemlich hoch und greifen rasch auf die umliegenden toten Zweige über, ich bin also damit beschäftigt, das Feuer in Grenzen zu halten. Da brennen sie, meine lieben Helfer.
Bescheidener Sonnenuntergang
am Kap
Auch wenn das Wasser kalt sein wird, ich muss im Atlantik baden gehen, ich laufe doch nicht 900 km durch Nordspanien ohne in das kühle Nass zu springen. Außerdem war ich das letzte Mal mit drei Jahren im Atlantischen Ozean baden, daran kann ich mich kaum noch erinnern, also war ich praktisch noch nie drin, jetzt wird es aber Zeit. Und es ist wirklich unbeschreiblich kalt, geradezu eisig, mir fallen gleich die Beine ab. Weit schwimme ich nicht hinaus, aber ich war baden, mehr wollte ich nicht, das erfrischt auch ungemein.
Meine Stöcker haben mir auf dem Camino gute Dienste geleistet und dürfen jetzt nach getaner Arbeit hier verbleiben, ich breche einen in der Mitte durch und errichte ein Kreuz. Unterwegs habe ich dermaßen viele Kreuze und Kirchen gesehen, ich glaube, das ist ihr würdiges Ende, der nächste religiöse Pilger kann sich gerne daran erfreuen.
Bernd und Lena tauchen nicht auf, aber sobald ich wieder in Finisterre bin, begebe ich mich auf die Suche, aber stattdessen finde ich Maren aus León. Was in aller Welt treibt sie denn hier? Ich dachte, dass sie und Alex längst über alle Berge sind, so hatte ich die Email interpretiert.
„Nee, Chris. Wir haben von León aus den Zug nach Sarria genommen und sind von dort aus brav gelaufen.“
„Dann müsst ihr ja in den letzten Tagen in Santiago gewesen sein. Und seid ihr hierher auch gewandert?“
„Nein, wir doch nicht. Wir sind mit dem Bus gefahren. Morgen geht’s wieder nach Santiago zurück.“
Großartig, ich sehe die beiden bestimmt nachher am Leuchtturm wieder.

Bernd und Lena haben sich in einem Café versteckt und ihren Tagesplan soweit erfüllt, uns fehlt nur noch der Sonnenuntergang, wenn wir den miterleben wollen, sollten wir bald zum Leuchtturm aufbrechen. Viele aus der Herberge feiern ihre eigene Party (und sind danach nicht mehr ansprechbar, weil betrunken). Zuerst gibt es das gemeinsame Essen und anschließend geht man zum Weststrand. Das ist nicht unser Ding, wir ziehen den klassischen Leuchtturm vor.
Das letzte Ritual sieht vor, am Kap den Sonnenuntergang zu betrachten und sich dann dort schlafen zu legen, am nächsten Morgen ist man als neuer Mensch erwacht und kann die Rückreise antreten.
Das Kap ist bereits gut gefüllt, Maren und Alex geben sich alle Mühe möglichst viele Seifenblasen auf den Ozean hinaus zu schicken. Vom Sonnenuntergang kommt nicht viel rüber, denn der Himmel bewölkt sich und verdeckt so gut es geht die rote Scheibe. Bernd versucht noch seine Socken anzuzünden, nur langsam ziehen Wind dichter Nebel auf, das klappt nicht sonderlich gut, schade.
Hier ist die Reise leider zu Ende, wir fahren morgen früh mit dem Bus zurück nach Santiago und dann trennen sich unsere Wege.
Bis hierher waren an beinahe 900 km, eine großartige Reise, kann die nicht noch weitergehen. Den Blasen zum Trotz, es hat sehr viel Spaß gemacht, Höhen und Tiefen habe ich viele erlebt und so auch einiges über mich gelernt, egal wie kitschig das klingt.
Es war die richtige Entscheidung den Sternenweg anzuhängen. Santiago ist eine wunderschöne Stadt, aber ein plötzliches Ende. Bei mir waren weitere 90 km nötig, um mich langsam darauf einzustellen (das hat insgesamt drei Wochen gedauert, bis ich alles realisiert hatte). Die Strecke nach Finisterre ist eine Augenweide und bildet zusammen mit dem Kap den würdigen krönenden Abschluss unserer Reise, ich kann mir wirklich keinen besseren Ort vorstellen.
Trotzdem ist es gut, dass es übermorgen wieder nach Hause geht. Meine Freundin fehlt mir und Berlin vermisst mich wahrscheinlich auch schon.

zurückgelegte Strecke: 887 km

Tag 28 26.9. Hinab zum Meer

Von Vilaserio nach Cee (40 km)
Eine neue Premiere, ich muss um vier raus, oder eher, ich will um vier raus. Vor uns liegen 40 Kilometer bis nach Cee, die würde ich gerne früh hinter mir haben, nicht nur, weil die Herbergenplätze sehr begehrt sind, sondern weil ich einfach nicht so spät ankommen möchte. Mucksmäuschenstill schleiche ich mich aus der Herberge und laufe die Straße hinunter, während ich mein Bocadillo esse. Heute Morgen herrscht der stärkste Nebel, der mir je untergekommen ist, meine Taschenlampe bringt überhaupt nichts, denn das Licht bricht sich an den gefühlten drölfzig Milliarden Wassertröpflein. Quasi nur eine Handbreit vor meinen Augen erscheint dann alles milchig weiß, ich erkenne mit Licht noch weniger als ohne, denn in der nebligen Dunkelheit kann ich wenigstens noch ein paar Meter weit sehen, mit Licht nicht einmal einen halben.
Sonnenaufgang
Zum ersten Mal habe ich mich ernsthaft verlaufen. Hinter einem Ort, der keinen Namen hat, hätte ich links abbiegen müssen, nur weiß ich das nicht. Stattdessen laufe ich nach rechts, sehen kann ich sowieso nichts, irgendwann endet die Straße an einer Absperrung, man kann aber links auf einen Feldweg ausweichen, dem ich notgedrungen folge. Seinem Namen gerecht werdend, endet der Feldweg auf einem Feld und ist dort nicht zu verfolgen. Wo zur Hütte bin ich? Ich kann nicht sehen, wie groß das Feld ist, denn mich umhüllt ja die dichte und gewaltige Nebelbank. Ich gehe zur Straße zurück und steige über die Absperrung, eine Straße sollte am Ende schließlich ein Ziel haben. Diese nicht, sie endet nach einigen hundert Metern vor einem strauchigen Abgrund. Offenbar bin ich falsch abgebogen, alle anderen Möglichkeiten sind ausgeschöpft, aber bin ich denn auch im richtigen Dorf? Der Dummheit folgt die Strafe auf den Fuß, an der T-Kreuzung erscheint der blaue Pfeil (blau für Sternenweg?), der nach links zeigt. Zu Hause habe ich in GoogleMaps nachgesehen, was ich in Spanien verzapft hatte, der rechte Weg verläuft sogar im Kreis, das habe ich nicht einmal mitbekommen, und auf dem Feld hätte ich nur geradeaus gehen müssen, vielleicht auch durch das Unterholz, und wäre wieder auf der Straße gelandet.
Gegen acht Uhr wird es hell und ich stehe an einem Berg, den ich komischerweise nicht überqueren soll, obwohl der Jakobsweg dahinter weiter läuft. Stattdessen führt mich die Straße außen herum, finde ich im ersten Moment unnötig, im zweiten aber famos. Denn jetzt, wo die Sonne aufgeht und sich der Nebel lichtet, habe ich einen perfekten Blick auf die Nebelbank, die sich im Osten auftürmt, während die gelb brennende Sonne hinüber klettert und die Nebelfetzen violett einfärbt.
Zur Halbzeit in Olveiroa suche ich die Herberge auf, es ist zwar erst 11 Uhr, aber es wäre doch schön, wenn ich meine letzten Nudeln in der Herberge verkochen könnte, denn dort soll es eine Küche geben. Die Besitzerin ist im Moment mit Putzen beschäftigt und meint, wenn ich die Küche benutzen möchte, sollte ich mich noch drei Stunden gedulden. Das ist mir zu lange, ich bediene mich eher aus meinem Rucksack mit Brot, Wurst und Käse und ziehe eine halbe Stunde später weiter.
Nach Muxia oder Finisterre?
Dieser Abschnitt des Camino landet auf Platz zwei der besten Strecken. Ich bin heilfroh niemanden zu sehen und konzentriere mich voll und ganz auf die Landschaft, ich fühle mich in die Berge vor Ponferrada zurück versetzt, ebenso wie dort laufe ich nun über baumlose, nur mit Sträuchern und latschenkieferähnlich bewachsenen Bergkuppen, der Blick ins Tal offenbart einen Strom, der sich durch die Bergflanken gräbt.
Diese Idylle wird kurz unterbrochen durch das Dorf Logoso, wo ich das zweite Schwein des Weges treffe, das auch einen unerträglichen Gestank verbreitet. Der Ort liegt tot in der Gegend rum und wird durch Hospital fortgesetzt. Der hiesige Brunnen enthält wohl kein Trinkwasser, zumindest steht dort, dass man besser nicht davon kosten sollte. Dahinter gibt es eine einsame Bar, zu Füßen einer Fabrik, dort kann sich der beinahe verdurstende Pilger stärken. Ich lasse sie links und laufe zu der Stelle, an der ich mich endgültig entscheiden muss, ob ich nach Finisterre oder nach Muxía wandere. Das Heiligtum von Muxía ist sicher eine Augenweide, ich höre davon nur Gutes, mein Zeitrahmen lässt leider nicht den Besuch beider Orte zu und Finisterre reizt mich mehr, es ist immerhin das „Ende der Welt“. Also gehe ich nach links.
Endlich am Meer
Der Weg verlässt die Landstraße und die Fabrik, schlägt sich nach rechts in die wilden Felder und trockenen Berge. Es ist erneut ein weitgehend wasserloser Tag, aber nicht wirklich heiß. Eine Beschilderung ist hier eigentlich nicht mehr wirklich nötig, der Trampelpfad führt nur in eine Richtung, über Stock und Stein.
In der Ferne kann ich bereits das Meer erkennen, vielleicht auch das Kap, aber da bin ich mir nun wirklich nicht sicher. Cee rückt immer mehr in Sichtweite und jetzt kommt auch das Gefälle, auf den letzten zwei Kilometern geht der Weg gut 500 Höhenmeter auf das Meeresniveau herunter. Cee liegt zu Füßen der Berge, denen direkt der Ozean vorgelagert ist, teilweise wächst die Stadt auch auf die Berge hinauf.
Ich weiß nicht, wo die Herberge ist, ich habe gestern eine Karte vom Camino de Fisterra gesehen, deswegen denke ich, dass ich Richtung Norden muss, zu meiner Rechten also. Soweit liege ich damit richtig, die Beschreibung im Reiseführer haut nicht ganz hin, ich muss mich erneut durchfragen, am besten wissen die immer in einer Bar Bescheid. Die Herberge hat eine Küche, liegt direkt neben der Polizeistation und hat geschlossen, wegen Renovierungsarbeiten, könnten aber auch Abrissarbeiten sein, denn das Gebäude sieht furchtbar aus.
Lena und Bernd in Cee
Nun ja, jetzt weiß ich nicht wohin und auch nicht, wo ich eine andere Herberge finden kann, in Cee kenne ich mich überhaupt nicht aus und bin auf diese Situation nicht vorbereitet. Auf der Straße treffe ich ein Pilgerehepaar, die sich ebenfalls eine neue Bleibe suchen müssen. Zumindest der Mann kann sich auf Spanisch verständigen und erfragt die Richtung zu einer privaten Unterkunft. Wir finden eine, die zum Hotel Izra gehört, die Herberge ist sehr gut geführt und macht einen guten Eindruck. Nachdem ich mich geduscht habe und gerade zum Schlafen niederlegen will, betreten Bernd und Lena den Raum, die beiden haben es gar nicht erst in der öffentlichen versucht, schlau von ihnen. Die Herberge ist nur zur Hälfte voll, wir können uns ordentlich breit machen, finde ich praktisch, denn meine Klamotten müssen noch trocknen, da ist es besser, wenn ich die über das komplette Bettgestell verteilen kann.
Zum Abend setzen sich Lena und Bernd in eine Pizzeria, ich schließe mich beiden nach meiner Streiftour durch Cee an. Ich muss schon sagen, ein bisschen erinnert es mich an Cannes. Wir schauen am Strand vorbei und stecken die Füße in das eiskalte Atlantikwasser, es ist wirklich sehr kalt, aber das wird mich nicht davon abhalten morgen baden zu gehen.

zurückgelegte Strecke: 872 km

Dienstag, 7. Februar 2012

Tag 27 25.9. Auf dem Sternenweg

Von Santiago de Compostela nach Vilaserio (34 km)
Ich habe geschlafen wie ein Stein, der Alkohol macht’s möglich, zum Glück gibt es keinen Kater, mit dem hätte ich nicht laufen wollen. Lena und Bernd sind wahrscheinlich noch nicht auf der Straße, sie meinten gestern, dass sie vor sieben Uhr keinen Fuß vor die Tür setzen.
Die Klamotten, die ich am Vortag gewaschen habe, sind weit von der Trockenheit entfernt, ich muss sie an meinen Rucksack hängen, der dadurch zum mobilen Wäscheständer mutiert.
Heute verlasse ich den Camino de Santiago und laufe nun auf dem Sternenweg, der von Santiago zum Kap de Finisterre führt.
Ziemlich genau gemessen
Urplötzlich verlasse ich die Straße, überquere einen verwilderten Bach und stehe im Wald, aber ich bin irgendwie immer noch in Santiago. Der Wald ist groß, dicht, finster und führt steil und geröllig auf den Berg, von dem aus man einen zauberhaften Blick auf die schlafende Altstadt und die sich dahin windende Autobahn hat. Ab heute gehe ich mehr oder weniger blind. Ich habe es mir zügig abgewöhnt, die nächste Etappe am Vorabend zu lesen und die Karte zu begutachten, aber ich konnte immer nachsehen, falls ich meine Position wissen wollte. Mein Reiseführer geht jedoch nur bis Santiago, das reicht auch völlig, weiter wollte ich ursprünglich schließlich nicht. Für die folgenden drei Tage habe ich mir von Susanne die Etappen aus ihrem Reiseführer herausgeschrieben, die hauen aber nicht wirklich hin. Lenas Herbergenkatalog geht bis zur Küste, dort konnte ich schon mal herauslesen, wo ich überhaupt schlafen kann, über den Daumen gepeilt bleibt mir da nur Vilaserio.
Die Beschilderung auf dem Sternenweg ist mäßig, aber ausreichend, besonders witzig finde ich die Markierungssteine, die die Entfernung zum Kap de Finisterre auf den Meter genau angeben können. Hat hier etwa jemand gewissenhaft und korrekt vermessen? Leider fehlen die meisten dieser Schilder, wahrscheinlich weil sie von Andenkensammlern heraus gemeißelt wurden.
Eigentlich könnte man meinen, da es ja nur noch an die 90 Kilometer bis zur Küste sind, dass wir uns allmählich auf Meeresniveau begeben. Weit gefehlt, der Sternenweg trumpft mit allerlei gewundenen und ansteigenden Straßen auf, die sich lieblich durch die Eukalyptuswälder schlängeln. Diesen Teil mag ich am liebsten, es ist unheimlich ruhig, die einzigen Geräusche macht der Wind und vielleicht ein verirrter Vogel, nirgendwo treffe ich eine Menschenseele, in den Dörfern, die ich durchquere, hält sich niemand auf der Straße auf. Dieser Weg ist lange nicht so überlaufen wie der Camino francés, das ist sehr angenehm.
In Negreira ist gerade Markt, an einem Sonntag, die Stadt sah erst sehr klein aus, und schien nur einen Park zu haben, besser gesagt war es ein grüner Fleck zwischen zwei großen Straßen. Am Springbrunnen habe ich meine Reserveflasche für die Pause aufgefüllt und wenig später einen hübschen Park in der Nähe des Marktes gefunden. Viele Menschen sind auf den Beinen, strömen zum Markt hin, die andere Seite wieder zurück, mal abgesehen von diesem Ort, ist dann aber auch nichts los. Während ich auf der Parkbank die Füße hochlege, kann ich eine Franzosengruppe beobachten, die auch ihr Päuschen macht. Des Öfteren werfen sie fragende Blicke zu mir hinüber, ich kann schon fast von zehn rückwärts zählen, bis einer von ihnen auf mich zukommt und mich auf Französisch anspricht.
„Tut mir leid, ich spreche kein Französisch, aber Englisch“, antworte ich auf die unverständliche Frage.
„Wo geht es auf den Jakobsweg?“
„Sie gehen die Straße, von der Sie kommen, einfach weiter geradeaus. Am Ende der Straße sollte es dann einen Wegweiser geben, sofern Sie zur Küste wollen.“
Er bedankt sich und kehrt zu seiner Gruppe zurück. Die eine Frau schnattert auf ihn ein und schickt ihn wieder zu mir zurück.
„Sind Sie von Santiago aus hierher gelaufen?“, fragt er interessiert. Will das jetzt die Frau wissen, oder er? Es stellt sich heraus, dass sie von Santiago aus den Bus hierher genommen haben und den Rest bis zur Küste zu Fuß zurücklegen werden.
Es sind jetzt noch angeblich elf Kilometer bis nach Vilaserio, aber ich habe weder den blassesten Schimmer, wo ich mich befinde, noch wie viel Weg ich bereits zurückgelegt habe. Es gibt keine Angaben mehr, ich wüsste schon gerne, wie lange ich noch unterwegs bin. Die einzigen Pilger, die ich treffe, sind die, die mir entgegen kommen. Es hat den Anschein, dass manche wieder von Finisterre zurück nach Santiago laufen. Warum auch nicht, wenn man genug Zeit hat? Die Landschaft ist schließlich großartig. Ich frage ein englisches Pärchen, ob ich auf der richtigen Route bin, und siehe da, ich habe nur noch einen lausigen Kilometer vor mir, Vilasereio taucht bald darauf hinter einer Biegung im Wald auf. Die Herberge ist ein Loch, es handelt sich um ein ausgedientes altes Haus, wahrscheinlich eine ehemalige Turnhalle, denn an den Wänden lehnen Sportmatten. Was heißt schon Loch, die Matratzen sind weich, man kann sich duschen und auf Toilette gehen, das reicht aus. Vor der einzigen Bar und der anderen, jedoch privaten Herberge, erscheinen nach kurzer Zeit Lena und Bernd.
Wir verabreden uns auf den Abend, denn jeder von uns muss sich erst einmal ausruhen. Mit in meiner Herberge sind noch drei andere Deutsche, der eine leiht mir seinen Reiseführer, der bis Finisterre geht und ich fotografiere die letzten Seiten mit Wegbeschreibung ab, nur zur Vorsicht.

zurückgelegte Strecke: 832 km

Montag, 6. Februar 2012

Tag 26 24.9. Endlich Santiago

Von Monte de Gozo nach Santiago de Compostela (5 km)
I HAVE A DREAM, könnte ich meinen. Mein Traum/Plan sieht wie folgt aus: ich will im Sonnenaufgang in Santiago einreiten. Damit das klappt, muss ich etwa gegen acht Uhr die Stadtgrenze überschreiten, also kann ich gemütlich um sieben Uhr aus den Federn springen, ein letztes Mal ausschlafen sozusagen.
Ein Stück Heimat auch in Spanien
Ich wache natürlich vor der Zeit auf, im Zimmer herrscht Radau, denn meine Zimmergenossen machen sich lautstark fertig, aber ich habe fast schon zu viel gepennt und schließe mich denen an. Im Kühlschrank in der Küche finde ich Baguette vom Vorabend, tolles Frühstück, und mache mich bald hinaus in die Wanderschaft. Das Wetter zieht alle Register, als starken Kontrast zu gestern haben wir einen wolkenlosen Himmel, am Horizont kann man bereits rote Streifen erkennen, jetzt aber schnell.
Mein Plan geht auf, mit der Sonne im Rücken marschiere ich in Santiago de Compostela ein, die Stadt hat mich schon auf den ersten Metern für sich gewonnen. 
Volles Haus zur Messe
 Santiago ist sehr hügelig, daher sehen die grünen und bebauten Hänge auch so eindrucksvoll aus. Wir, also die Pilgertraube, in der ich irgendwie drin stecke, passieren das Herbergenviertel, hier stehen nur private, vielleicht eine gute Überlegung, wenn ich von der Küste wiederkehre, aber für’s erste suche ich die öffentliche Herberge, die soll angeblich auch näher am Stadtzentrum liegen.
Doch zuerst geht es durch die engen Häusergassen bergab Richtung Altstadt, die sich mit hohen Häusern und engen Gassen vor mir auftürmt. An jeder Ecke findet sich ein Pfeil, der die letzten Meter zur Kathedrale weist, diese betrete ich durch das Nordportal und nicht wie gedacht, durch die Westseite.
Der Bau ist gewaltig, der Innenraum ist so groß wie in Burgos, vielleicht auch größer und hier wurde nicht mit Sitzbänken gespart, alle drei Schiffe sind voll gestellt. Hier sind nicht allzu viele Menschen, darunter nur sehr wenige Pilger, aber viele Touristen, erkennbar an der schicken, sauberen Kleidung und den Schuhen. Sofort wird der Blick auf den prächtigen, in nichts nachstehenden Altar gezogen. Dort thront der heilige Jakob, in eine büstenhaften Goldstatue gefasst, noch weiter oben reitet er auf seinem weißen Ross und spielt erneut den Matamoros. Wie es der Brauch will, umarmen die Pilger den heiligen Jakob und melden ihm dankbar den Abschluss der Reise, dazu kann man hinter dem Altar zu diesem emporsteigen. Es hat sich bereits eine lange Schlange gebildet, ob der engen Treppe stelle ich meinen Rucksack in eine einsame, dunkle Ecke und ernte dafür böse Blicke von den Touristen. Pilgerkathedrale?
Zwischen Rathaus und Kathedrale
Die Treppe ist aus feinstem, roten Marmor errichtet, es geht nur wenige Stufen hinauf in einen glitzernden Raum hinein, zur Linken zeigt einem Jakob die Rückseite, ich umarme den Heiligen von hinten und bin zugleich froh und ein wenig traurig, dass es hier vorbei ist. Man hat übrigens einen tollen Blick auf den Vorderaltar und auf die Sitzreihen. Anschließend steige ich die zweite Treppe hinab, lande wieder auf der Grundebene und gehe noch ein Geschoss tiefer, diesmal unter den Altar. Hier liegen Jakobs Gebeine in einem silbernen Sarkophag verschlossen, ein Gitter trennt die Besucher von Santiago, für fromme Menschen gibt es auch eine Gebetsbank.
Barocke Westfassade der
Kathedrale
An der Südseite der Kathedrale schließt sich das Pilgerbüro an, wo die lang ersehnte Compostela ausgestellt wird. An vier Schaltern kann man bedient werden, die Frau möchte lediglich meinen Pilgerausweis sehen, dort stehen neben meinem Namen, der Herkunft und der Nummer meines Personalausweises auch die Stempel, die ich bis hierher gesammelt hatte. Dies bescheinigt der Frau, dass ich die gesamte Strecke zu Fuß zurückgelegt habe, insbesondere der letzten 100 km, auf die es ja eigentlich nur ankommt. Ein letztes Mal werde ich danach gefragt, ob ich in Roncesvalles gestartet bin, denn das ist der erste Stempel.
„Nein, in St.-Jean, ich habe nur vergessen mir dort einen Stempel zu besorgen“, antworte ich.
Zoom auf den Altar
Das genügt ihr. Sie nimmt den Fragebogen entgegen, in dem angegeben habe, dass ich keiner Religion angehöre.
„Hier steht, dass sie nicht religiös sind“, sie verweist mit einem Fingertippen auf mein Kreuz. „Ist ihre Reise denn spirituell motiviert?“
„Ja, ja“, lüge ich zusammen.
Damit händigt sie mir die Compostela aus. Tja, so leicht kann man der Kirche ein Schnippchen schlagen. Ich bin weder religiös noch spirituell unterwegs gewesen, auch wenn das manch anderer behaupten mag. Aber die Compostela der Kathedrale erhält man nur mit einem der beiden Gründe, ansonsten gibt es die kulturelle, die aber nur ein billiger Ersatz der ursprünglichen Urkunde ist und auf das Original bin ich nun mal scharf. Ich kaufe mir auch gleich eine Papprolle, um das Dokument sicher darin aufzubewahren.
In der Compostela steht folgendes: „Das Kapitel der Heiligen Apostolischen Erzbischöflichen Compostelanischen Kathedrale, Kustos des Siegels des Altars des Apostels St. Jakobus, zu allen Gläubigen und Pilgern, die, von überall her kommend, mit Andacht oder auf Grund eines Gelübdes vor dem Apostel Jakobus, Unseres Schutzpatrons Spaniens, niederlassen, beurkundet im Beisein aller, die diese Urkunde lesen möchten, dass: Herr Christian Böhnke mit Andacht und mit einer christlichen Motivation (pietatis casua) diese hochheilige Kirche besuchte. Zu Urkund dessen überreiche ich ihm diese Urkunde, die mit dem Siegel der heiligen Kirche bekräftigt ist. 
Überreicht
in Santagio de Compostela am 24. September Anno Domini 2011“.
Aufstieg zum Apostel
Der Name ist stets latinisiert, meine Motivation ist natürlich nicht christlich, aber mein Name schon, das reicht doch wohl.
Draußen auf dem Flur stoße ich auf Thomas und Nicolien, die wenig später auch in Besitz der Urkunde sind, Thomas kann sich wahrscheinlich bald eine ganze Zimmerwand damit tapezieren. Wie gut, dass wir die Formalität hinter uns haben, draußen bauscht sich eine lange Schlange auf, in der würde ich nicht stehen wollen.
Beide suchen sich ein Hotel und ich latsche zur Westseite der Kathedrale, diesem Teil wurde ein barocker Überzug übergeworfen und sieht wie eine Kleckerburg aus. Auf der anderen Seite steht das Rathaus, glaube ich, dazwischen ist nur ein riesiger Platz, gefüllt mit Unmengen an Menschen, meist Pilger. Dort finde ich Lena und Bernd, die sich im Hotel an eben jenem Platz einquartiert haben, die beiden kommen von Arzúa, wie auch Nicolien und Thomas. Und beide wollen morgen weiter Richtung Küste laufen, verabreden tun wir uns besser nicht, das würde nur im Chaos enden, das klappt nämlich nur sehr schlecht. Aber wir werden uns wahrscheinlich morgen in Vilaserio sehen.
Und sein Grabmal
Vom Platz vertreibt mich eine Oldtimer-Parade, nett anzusehen, aber hupend und im Weg, deshalb verdrücke ich mich in Richtung Pilgerbüro und werde erneut von Thomas, Nicolien und den Deutschen überrascht. Die stecken mir, dass Judith heil hier angekommen ist und rasch in der Kathedrale verschwand, um ihre Pilgerreise mit der Umarmung zu beenden. Aber dort ist sie nicht mehr, wahrscheinlich haben wir uns um wenige Minuten verpasst.
Nun ist es Zeit, die Herberge aufzusuchen, diese thront außerhalb der Altstadt auf einem der vielen Hügel und sieht von außen wie ein altes, großes Hospital aus. Der Schuppen hat noch nicht offen, in einer halben Stunde beginnt die Pilgermesse und die Zimmer sind noch nicht begehbar, weil noch geputzt werden muss. Aber der Schalter öffnet, nur leider bekommt der Kerl nichts gebacken, der Computer ist anscheinend unheimlich langsam, die Zeit bis zur Messe rückt näher und ich muss dort hin rennen, aber das nützt auch nicht viel. Alle Gäste stapeln sich bereits, die Sitzplätze sind wahrscheinlich schon seit langer Zeit besetzt, alle drei Schiffe sind restlos überfüllt und ich glaube zwischen Tür und Angel stehen auch noch Gäste. Der Gottesdienst beginnt mit dem Orgelspiel, welches natürlich zu einem triumphalen Thema wechselt, als die Priester in die Kathedrale einziehen. Vom Gottesdienst selbst verstehe ich kein einziges Wort, es ist alles auf Spanisch. Aber die Nonne beeindruckt mich, sie saß bisher still im Hintergrund und regt nun die Gemeinde zum Singen an, in Latein, die Frau hat die Stimme eines Engels und schafft es auch, dass wir alle gemeinsam zwei lateinische Lobgesänge schmettern.
Butafumeiro (photo by Alex)
Ich habe gelesen, dass nach dem Gottesdienst der Botafumeiro, das große Weihrauchfass, durch die Seitenschiffe geschwungen wird, das bleibt heute anscheinend aus. Ein Priesterdiener meint jedoch, dass ich es in den Abendstunden noch einmal versuchen sollte.
Für’s erste begebe ich mich in meine Herberge. Das Foyer ist groß, erinnert mich an den Vorraum eines Schlosses, aber der Rest gleicht einer Massentierhaltung. Die Schlafsäle sind auf drei Etagen verteilt, in einem Saal finden an die 150 Betten Platz. Ein großartiges Sightseeing bleibt aus, denn ich bin ja in vier Tagen wieder hier und habe dann mehr Zeit als genug. Mein Buch hat noch genug Seiten und beschäftigt mich, bis ich vor Müdigkeit die Augen schließe und in den Mittagsschlaf entschwinde.
Gegen sechs Uhr abends schaue ich auf einen Sprung in der Kathedrale vorbei und bekomme gerade noch das Ende des Weihrauchfasses mit, was einen angenehmen Duft im Kirchenhaus verbreitet. Das Teil wird von acht Männern in Schwung gebracht, pendelt lange Zeit hin und her und wird dann von einem Priester elegant aus dem Schwung aufgefangen.
Der Rückweg zur Herberge kreuzt den Markt, in mehreren steinernen Hallen und auf den Bürgersteigen davor bieten Menschen ihre Waren feil. Dominiert wird der Verkauf von Fleischwaren und Fisch. Ganz neu für mich sind aber die Hühner, die am Stück verkauft werden, damit will ich sagen, dass denen nur die Federn fehlen und sie mit langen, kahlen Hälsen und leblosen, kleinen Köpfen auf dem Eis liegen. Das erinnert mich an „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch, wo die Hühner reihenweise ersticken.
Ein letztes Treffen
Im Anschluss ziehe ich suchend durch die Straßen. Wo sind meine Mitpilger? Ich klappere wirklich jede Bar ab, aber nirgendwo findet sich ein Zeichen. Schließlich stolpere ich beinahe über Thomas, der gerade eine Zigarette raucht, wenn er nicht draußen gewesen wäre, hätte ich die anderen wahrscheinlich nie gefunden, in der Bar sitzen noch Nicolien, Ilka und zwei der deutschen Gruppe. Heute gibt es den zweitbesten Wein, der mir hier in Spanien untergekommen ist, einen weißen Albariño Pazo de Portico. Davon trinken wir auch viel zu viel, na gut, die Rasselbande hat heute den letzten Abend, morgen reisen alle wieder ab, entsprechend groß ist die Feierlaune.
Falls ihr euch erinnert, ich habe von den Salzburgern erzählt, deren Existenz mich über mehrere Ecken erreicht hat. Eben jene sind von Salzburg aus hierher gelaufen. Und der eine Typ ist mit denen zwei Wochen in Frankreich gewandert, er hat irgendwo in Deutschland angefangen und die meiste Zeit draußen gecampt. Sein Zelt ist nur eine Plane, die Stöcker sind seine Wanderstöcke, des Weiteren hat er noch Campingkocher und Essen dabei gehabt, dabei schleppt er nur zehn Kilo, alles ist ultraleichte Ware und wahrscheinlich auch ultrateuer, dafür aber umso effektiver.

zurückgelegte Strecke: 798 km

Sonntag, 5. Februar 2012

Tag 25 23.9. Eukalyptuswälder

Von Ribadiso nach Monte de Gozo (37 km)
Wenn mein Plan aufgeht, nächtige ich heute in Monte de Gozo, das direkt vor den Toren von Santiago de Compostela liegt, somit hätte ich morgen einen langen Tag am Ziel meiner Reise.
Der Mann unter mir hat mich nur widerwillig schlafen lassen, andauernd hat er gegen die Unterseite meiner Matratze getreten. Bloß gut, dass ich mich früh auf die Socken mache und von hier verschwinde. Nach Arzúa geht es auch recht flott, so mancher Pilger, der sich nicht nur viel zutraut, sondern auch viel schafft ist heute Nacht hier geblieben und läuft die letzten 40 km bis nach Santiago an einem Stück.
Kreativ wie die Spanier so sind, erwartet den in Gedanken versunkenen Pilger in Arzúa eine Gruselattraktion a la Camino. Es ist noch dunkel, deshalb wirkt es auch so gut. Man geht an einem aus losen Steinen gebauten Haus vorbei und sobald man den Hühnerstall, so denkt man jedenfalls, passiert, kommt aus diesem ein grauenhaftes Krächzen und Keuchen, bei jedem Pilger. Dort hat sich wohl jemand einen Spaß erlaubt und einen Lautsprecher hinein gestellt, als Wachmacher und Lacher.
Meine Motivation wächst nur schleichend, ebenso schleichend komme ich mir heute vor. Meine Etappenhalbzeit Pedrouzu will einfach nicht näher kommen. Vereinzelt sehe ich noch die galicischen Kilometersteine, die mir in roten Lettern die Entfernung nach Santiago angeben. Bei Kilometer 27 stecke ich die Nase in den Reiseführer und der eröffnet mir, dass ich noch neun, statt der erst versprochenen fünf Kilometer laufen muss, bis ich Halbzeit habe. Die sollten den Weg mal neu vermessen und die Markierungssteine neu anordnen. Das wäre doch ein gutes Thema für eine Bachelor-Arbeit, mit einem GPS-Gerät läuft man auf dem Camino und funkt stetig ein Signal an den Satelliten, alles landet sauber und ordentlich in einer wundervollen Karte, wenn man lustig ist, kann man auch gleich einen topografischen Profilschnitt erstellen. Abnehmer für die bitteschön genauen Daten gibt es genug, jährlich wandern über eine Million Pilger, allein auf dem Camino francés, die freuen sich mit Sicherheit über bessere Schilder.
Aber auch Pedrouzou taucht irgendwann einmal auf, direkt hinein gehe ich nicht, denn das sollten nur die tun, die auch in die Herberge und nicht weiter möchten. Für alle anderen laufgewillten Verrückten gibt es eine Abzweigung am Ortseingang bei Rúa und man wird in die hübschen Eukalyptuswälder geführt. Das Klima muss wirklich feucht sein, denn es sieht wie im Dschungel aus, zum ersten Mal finde ich auch reife weiße Weintrauben, bisher waren jene, die ich gekostet hatte, zu jung. Das ist aber eine andere Traubensorte, auch die roten, mich würde interessieren, wie der Wein dazu mundet. Die galicischen Dörfler sind zu Recht misstrauisch gegenüber uns Pilgern und bauen ihre Trauben auf den Dächern ihrer Veranda an, im Normalfall zu hoch, um sie aus dem Stand zu erreichen, aber so manche seltene Rebe hängt tief und muss den Tod in meinem Mund erleiden.
Jetzt haben wir den Autobahnzubringer erreicht und umrunden den Flughafen von Santiago, ich wusste nicht, dass er direkt am Jakobsweg liegt. Nach Monte de Gozo ist es noch ein Stück, vielleicht acht oder zehn Kilometer, der Weg ist jetzt hart, nicht wirklich schwer, aber ich habe keine Lust mehr zu laufen.
Nicht mehr weit
In Lavacolla wusch man sich einst im Fluss, damit man auch sauber vor den Apostel treten konnte, eigens dafür kramte der mitdenkende Pilger das am wenigsten verdreckte Hemd aus seiner Tasche. Heute ist dies nicht mehr zu empfehlen, die Bäche haben ihre Sauberkeit eingebüßt, wer sich dennoch reinigen möchte, sollte es am Wasserhahn an der Kirche probieren.
Doch ich muss weiterlaufen und es lohnt sich auch, Monte de Gozo ist ein ansehnliches Vorstadtdorf. Die Herberge entstand in den späten 80er Jahren als Papst Johannes Paul II. auf dem Camino de Santiago pilgerte, womit ich meine, dass er die letzten fünf Kilometer von hier aus bis zur Kathedrale gelaufen ist, aber der Mann war immerhin schon alt. Um die Besuchermassen unterzubringen, wurde ein riesiger Herbergenkomplex, der einem Ferienlager gleichkommt, aus dem Boden gestampft. Hier gibt es an die 800 Betten, die Schlange vor der Rezeption ist lang, viele regen sich über den Typen am Schalter auf, weil er mit jedem Gast noch ein Pläuschen hält und nicht voran kommt, naja, lassen wir ihn halt, er macht seinen Job trotzdem gut und klappert mit mir sogar eine leere Baracke ab, um Decken aufzutreiben, von denen er mir eine überlässt. Auch wenn hier jeder Pilger unterkommt, die Baracken sind in Acht-Bett-Zimmer unterteilt und unseres ist nicht einmal voll. Hier treffe ich auch einen alten, leider jedoch namenlosen, Bekannten: den Spanier aus Larrasoaña, er hat immer noch kein Englisch oder Deutsch und ich noch immer kein Spanisch gelernt. Mir bleibt nichts weiter übrig als zu sagen „No entiendo“, aber freuen uns über einander, wie groß ist schließlich die Wahrscheinlichkeit, dass ich aus tausenden von Pilgern ausgerechnet ihn wieder sehe? Wie ich schon meinte: sage niemals nie.
Was kippen die ins Wasser?
Zu Deutsch übersetzt sich Monte de Gozo, oder auch Montxoi im galicischen, zu Berg der Freude, weil man vom Gipfelchen des Berges, wo auch ein Papstdenkmal steht, das erste Mal einen Blick auf Santiago de Compostela werfen kann. Heute allerdings herrscht das typische Wetter in Galicien, dicke Wolken am Himmel, seichter Nebel und Nieselregen. Unter diesen Bedingungen ist der Blick in die Ferne im wahrsten Sinne des Wortes aussichtslos.
In der Herbergscafeteria gibt es wenig Essen für teures Geld, ich habe jedoch ein kleines Lokal entdeckt, die Köchin macht mir zwei wunderbare Cheeseburger, die mich gut sättigen. Wenig später finde ich heraus, dass jede Baracke eine voll eingerichtete Küche besitzt, hätte ich doch nur nicht auf den schelmenhaften Reiseführer gehört. Ich setze mich kurz hinein und vertiefe ein britisches Ehepaar in ein Gespräch. Beide sind 78 Jahre alt und laufen den Camino seit zehn Jahren, manchmal auch öfter als einmal im Jahr. Der Beweis, dass es nun wirklich nicht auf die Fitness ankommt, liegt damit schon wieder direkt vor mir. Vor O Cebreiro haben Judith und ich auch ein älteres Ehepaar überholt, die zwar langsam liefen, aber dafür beständig unterwegs waren. Jeder, wirklich jeder kann hier wandern. An der Rezeption hängt ein Foto an der Wand, darauf ist eine Gruppe von Männern abgebildet, die einen Rollstuhlfahrer (mit Rollstuhl) über die Berge tragen.
Zurück zu den Briten, sie laufen so gut es geht jedesmal unterschiedliche Routen, dieses Jahr waren sie auf dem Camino de norte, dem Küstenweg. Darüber hatte ich auch erst nachgedacht, aber die Aussicht auf viel Regen hat meinen Plan auf den Camino francés gelenkt. Völlig unnötige Sorgen, beider sagen mir, dass der heutige Tag das schlechteste Wetter hat, seitdem sie gestartet sind. Lachhaft, das nächste Mal gehe ich auch den Küstenweg, der ist auch nicht so überlaufen wie die Hauptroute.
Beide waren gestern in Santiago und laufen zurück nach A Coruña, von dort nehmen sie den Zug nach San Sebastian und fliegen anschließend nach Hause.

zurückgelegte Strecke: 793 km