Dienstag, 31. Januar 2012

Tag 22 20.9. Das Kloster von Samos

Von Triacastela nach Barbadelo (30 km)
Es ist soweit, ich bin krank. Abgesehen von dem Plemplem in meinem Kopf meine ich, dass mich eine Erkältung gepackt hat, der Hals kratzt und schmerzt, die Nase läuft. Großartig, hätte das nicht bis Berlin warten können?
Judith und ich hatten den Plan in Sarria einen Oktopus zu verspeisen, denn der wurde uns wärmstens empfohlen. Daraus wird nur nichts, denn wir gehen heute zwei unterschiedliche Routen und sich zu treffen, wird quasi unmöglich. Sie geht auf direktem Weg nach Sarria und wohl auch noch weiter. Ich mache heute einen Umweg über Samos, um dort die Klosteranlage zu sehen, und schlage dann erst den Pfad nach Sarria ein.
Nach Samos findet man nicht leicht, der Weg ist schlecht markiert, sehr schlecht, die Kleckerdörfer finde ich allesamt nicht auf meiner Karte, die ist also auch schon mal schlecht. Dennoch finde ich hin, gerade als die Sonne aufgeht, das Kloster liegt jetzt im aufsteigenden Licht des Feuerballs, toller Anblick, genau deswegen habe ich den Umweg in Kauf genommen, nur deswegen. Ins Kloster gehe ich nicht, eine Besichtigung würde mich meiner Zeit berauben, ich hab die Anlage gesehen, für schön befunden und ziehe weiter. Just in diesem Augenblick hält vor mir ein Auto, eine Frau steigt aus und ich muss sagen, sie sieht sehr deutsch. Keine Ahnung, woher ich das weiß, es ist mehr ein Bauchgefühl, dann steigt ihr Mann aus, okay, die beiden sind garantiert Deutsche, so ein griesgrämiges  Gesicht, so ein Bierbauch und so ein Schnauzbart, der gehört nach Deutschland. Ein Blick auf das Kennzeichen bestätigt meine Annahme. Man kann uns am Anblick erkennen?
Die Klosteranlage von Samos
Es ist typisch für diese Route, das merke ich aber erst jetzt, dass sich der Weg unzählige Male teilt, andauernd hat man die Qual der Wahl, alle Wege führen nach Santiago, aber welcher von denen geht nach Sarria? Ich weiß in etwa die Himmelsrichtung und schlage dann einfach den Weg ein, der dieser am nächsten kommt. Vom Glück bin ich gesegnet, alle Abzweigungen waren richtig. Die ganze Zeit über lief ich über Berge und durch Täler, als wäre hier die Zeit stehen geblieben, überall standen alte Häuser, alles grünte und blühte, die Vögel gaben ein lautes Konzert und seit Stunden habe ich kein Auto gesehen. Plötzlich quetsche ich mich durch eine schmale Häusergasse und bin wieder auf dem Hauptcamino, die Stille wird abrupt durch ein Radio zerschnitten.
Sarria ist eine sehr schöne Stadt, es reizt mich hier zu bleiben, aber dann fehlen mir viele Kilometer und mein Plan gerät ins Wanken. Sowieso sind alle Herbergen ausnahmslos überfüllt, dabei schlägt die Uhr erst 13. Sarria ist nebenbei gesagt der letzte Ort am dem Camino, den man gut mit Verkehrsmitteln erreichen kann und er liegt kurz vor dem 100 km Limit, das man mindestens gelaufen sein muss, um die Compostela zu erhalten. Es werden also viele Neustarter hier sein und sicher die Herbergen gefüllt haben.
Nach nur einer Stunde bin ich in Barbadelo und unsicher, ob ich hier bleibe. Einen neuen Pilger wird man hier sicher nicht treffen, denn die beiden Herbergen nehmen niemanden auf, der erst in Sarria angefangen hat, die müssen noch weiter laufen. Als ich über meinen Verbleib grüble, sehe ich Judith aus dem Herbergsbüro kommen, sie winkt mir freudig zu und ich beende den Tag für heute. Die Herberge ist auch ganz nett, die Besitzer geben sich viel Mühe, alles paradiesisch zu halten, es gibt einen sanft plätschernden Springbrunnen, am Eingang trällert Entspannungsmusik…
Ich muss sagen, der kurze Mittagsschlaf, oder heutzutage auch powernapping genannt, wirkt Wunder, danach fühlt man sich wie neugeboren. Judith erzählt mir, dass sie anfangs davon überhaupt nichts hielt, bis ihr Chef sie darauf aufmerksam gemacht hat. Seitdem hat sie in ihrem Büro eine Isomatte, rollt sie während der Mittagspause aus und hält für zehn Minuten ein Nickerchen, die Obrigkeiten begrüßen das, stärkt es danach doch erheblich die Konzentration und Arbeitsqualität. Wann wird das bei uns eingeführt? Oder ist es schon soweit und ich habe es nicht mitbekommen?
Zum Abend speisen wir im ansässigen Restaurant, die Pilgermenüs sind überall gleich, ein paar Mal kann man es wagen, aber überragend ist es nicht, soll es ja auch nicht, wir möchten nur satt werden. In den Wäldern bei Sarria gibt es anscheinend einen Waldbrand, zumindest steigen dicke Rauchwolken auf. Wenig später kommen Löschflugzeuge und entleeren ihren Wassertank über der Stelle, also wirklich ein großer Brand, den sie aber unter Kontrolle bekommen.

zurückgelegte Strecke: 686 km

Montag, 30. Januar 2012

Tag 21 19.9. Die Winternacht

Von Pereje nach Triacastela (46 km)
Es war unglaublich kalt im Schlafsaal, wir hatten Decken, denen sei Dank, aber kalt ist der Raum ja trotzdem noch. Judith und ich wecken wieder alle, weil wir die ersten sind und man sich nicht totenstill aus dem Schlafsaal schleichen kann. Die deutsche Gruppe verschwindet schon durch die Vordertür, als wir noch mit den Schuhen beschäftigt sind, tüchtige Leute.
Draußen ist es abgöttisch kalt, ich schätze um die 5°C oder etwas weniger, im Spätsommer finde ich das sehr kalt. Auf solche Temperaturen sind wir nicht vorbereitet, da kann ich nur meine Zipper-Hose als komplettes Teil anziehen, die Socken so hoch wie möglich rollen, Pullover und Jacke (ich sollte eher sagen, Innenfutter und Regenjacke, denn wenn man beides kombiniert, ist es meine Winterjacke, die ist zum Glück winddicht) und Kapuze aufsetzen, eine Mütze habe ich nicht. So geht das schon, schließlich läuft man, ich will auch nicht rumjammern, aber kalt ist eben kalt. Für die Hände habe ich nichts, nach einer halben Stunde sind die völlig unterkühlt, ich versuche sie in den Ärmel zu verstecken. Judith holt mich bald schlotternd und am ganzen Leib zitternd ein, auch wenn sie aus Kanada kommt, würde sie nicht bei diesem Wetter in Sommergarnitur herumlaufen. Im nächsten Ort, Trabadelo, halten wir nach einem Café Ausschau, irgendein warmes Plätzchen gibt es hoffentlich. Zuerst sieht es vergebens aus, auf der anderen Seite der Autobahn kann ich die leuchtenden Reklameschilder einer Raststätte ausmachen, aber dann taucht vor uns ein Haus mit einer Bar im Erdgeschoss auf, und die hat schon offen. Wir kennen hier jedes Gesicht, aber niemanden beim Namen. Hier gibt es eine Waage, auf der wir unsere Rucksäcke wiegen, ich habe etwa 10 kg aufgeschnallt, das ist für mich vollkommen okay, aber noch etwas erzählt mir die Waage. Und zwar, dass ich 5 Kilo abgenommen habe, das halte ich erst für weit hergeholt, aber es stimmt wirklich (ihr kennt ja meine Schlankheit, da kann ich auch nichts dagegen tun).
Photo by Alex
Nachdem Judith ihren Kaffee und ich meinen Croissant hatte, ziehen wir weiter. Sie hat die Idee, sich ihre Socken über die Hände zu ziehen, als Ersatz für Handschuhe, aber die Socken liegen bei ihr unten im Rucksack und sie will jetzt nicht darin herum kramen. Ihre Socken setzt sie vielfältig ein. Am ersten Abend in Los Arcos kam sie aus der Dusche und verkündete: „Heute habe ich den Rat einer Pilgerin befolgt. Ich habe nämlich mein Handtuch zu Hause vergessen und die Frau hat mir geraten, meine Socken zu benutzen. Also habe ich mir die Socken, ja, sie waren sauber, übergezogen und mich abgetrocknet.“  Die Not macht erfinderisch. Kurz vor Sonnenaufgang machen wir noch einmal halt, diesmal an einer Bäckerei, Judith besteht darauf uns beiden heiße Schokolade zu kaufen, das macht wach. Nach dieser Stärkung fängt die Sonne an, die Berge zu wärmen, unseren Kälteschutz brauchen wir nicht mehr und legen ihn Stück für Stück ab, gerade als die Straße endlich richtig bergauf geht, wird es angenehm warm. Bald verlassen wir dieses betonierte Elend und steigen auf die Bergpfade um, besser gesagt Hohlwege. Der Boden ist mit großen Steinen übersät, zu den Seiten 
 türmen sich hohe Bäume und dichtes Geränke auf, wie im Dschungel komme ich mir vor, das Sonnenlicht blinzelt nur vereinzelt durch das massige Blattwerk. Die Bauern treiben ihre Kühe von den Bergen herunter, wir müssen anhalten und den Tieren Platz machen, die den ganzen Weg für sich einnehmen und gemächlich ins Tal hinab trotten, wir stoppen natürlich gerne, wir sind Stadtmenschen, so oft sehen wir keine Kuhherde. In La Laguna, die Lagune glänzt nur durch ihre Abwesenheit, machen wir Pause, der Barbesitzer wirft uns jedes Mal, wenn er vorbeikommt, böse Blicke zu, weil wir uns aus unserem Rucksack versorgen und nichts bestellen. Hinter dem Dorf liegt die Grenze zu Galicien, die letzte Provinz, in der auch Santiago de Compostela liegt. Ab hier gibt es alle 500 Meter einen Markierungsstein, der die Entfernung nach Santiago angibt. Die Frequenz nimmt mit zunehmender Nähe zum Ziel allerdings ab. Nach gut vier Stunden Wanderung haben wir O Cebreiro erreicht, hier steht eine der ältesten Pilgerherbergen, sie wurde im 11. Jahrhundert erbaut und existiert noch heute in ursprünglicher Form. O Cebreiro ist vor allem durch das Blutwunder bekannt geworden. Im 14. Jahrhundert kämpfte sich ein Bauer aus dem Tal durch Sturm und Regen des Nachts den Berg hinauf, um der heiligen Messe beizuwohnen. Der Mönch, der die Messe hielt, hielt den einzigen Gast, eben jenen Bauern, für verrückt, diese Strapazen nur für etwas Wein und Brot auf sich zu nehmen. Plötzlich verwandelten sich die Hostie in Fleisch und der Wein in Blut, seitdem gilt der Ort als bekannter Wallfahrtsort und wird auch von Massen von Touristen besucht. Wir bleiben nicht lange hier, es geht jetzt eigentlich nur noch bergab, auf diese Höhe kommen wir nie wieder. Unterwegs streifen wir einen Schweinestall, es ist das erste Schwein, dem wir in Nordspanien begegnen, fett und strahlend rosa frisst es sich über die Wiese. Judith zückt ihr Ipad, um ein Foto zu schießen, aber die Schweineschnauze guckt nie in unsere Richtung, also fängt Judith an, das Vieh anzugrunzen. Es bleibt stur und Fotoscheu, dafür hab ich seine rosa Seite voll ins Bild bekommen.
So weit noch bis Santiago
Judith interessiert sich sehr für Deutschland, ab und an versuche ich ihr etwas Deutsch beizubringen, es trägt leider kaum Früchte. Aber sie und Eric haben besonders an dem Wort „Prost“ ihren Gefallen gefunden. Sie fragt mich vor allem über mein jugendliches Umfeld aus, was die Leute in meinem Alter so machen. Wie soll ich das beantworten? Zu den Leuten aus der Schule hab ich nur noch wenig Kontakt, meine Kommilitonen sehen langsam zu, dass sie eine Spezialisierung finden. Die jüngeren Semester haben mit den Studentenmassen zu kämpfen, jetzt wo die Wehrpflicht ausgesetzt wurde. So etwas haben die nicht in Kanada, auch mal gut zu wissen. Ihr Cousin war in Afghanistan, ihm ist nichts geschehen, zumindest körperlich, wenn es brenzlig wurde, war er gerade nicht dort stationiert, das hat sehr an ihm genagt, dass dagegen seine Kameraden die Schwierigkeiten abbekommen haben.
Ich weiß nicht, wie groß das Nationalbewusstsein der Kanadier ist, Judith ist überzeugte Pazifistin und hält den US-amerikanischen Patriotismus für überzogen und fehl am Platze, sie war entschieden gegen die Bush-Regierung (da finden sich auch genug in Deutschland) und bedauert, dass der jetzige kanadische Premier, der auch aus Quebec kommt, soviel Gegenwind von den Konservativen erhält, ebenso wie sie die Kritik an Obama bedauert. Sie kriegen das viel stärker als wir in Europa mit, immerhin teilen sie sich eine Grenze, von einem zum anderen Ozean.
die Grenze zu Galicien
In der Nachmittagshitze machen wir kurz in Fonfria im Hof der Herberge halt. Wir sind uns nicht sicher, ob wir hier bleiben. Naja, es gibt kein Telefon, damit ist Judith’s Wahl getroffen, also ruhen wir uns rasch aus. Dahinter kommt uns erneut eine Kuhherde entgegen, die letzte Kuh büchst aus und geht in die falsche Richtung. Der Schäferhund ist zu sehr mit der Herde beschäftigt, also ruft der Bauer einfach ihren Namen und siehe da, sie spitzt die Ohren, macht auf der Stelle kehrt und rennt zu ihrem Herrchen zurück. Ich hab noch nie erlebt, dass eine Kuh einen Namen hat, auf den sie auch hört, ich bin durch und durch ein Stadtkind.
Wir sind heilfroh nicht in Fonfria geblieben zu sein, hätten wir es getan und diesen Teil des Caminos in den dunklen Morgenstunden beschritten, wäre uns der fantastische Ausblick durch das Blattwerk der Bäume auf das Tal von Triacastela entgangen.
In Triacastela wollen wir bleiben, denn man müsste schon noch acht Kilometer hinten ranhängen, um das nächste Bett zu bekommen. Die städtische Herberge platzt aus allen Nähten, es gibt unter den vielen Alternativen nur noch eine private Herberge, die uns aufnimmt, auch die letzte im Ort. Dafür hat sie eine moderne Küche, gratis Internet und Judith und ich haben keine Zimmergenossen, die erste Nacht ohne Oropax. Ich verkoche alle meinen Nudeln, das reicht für uns beide, eine andere Pilgerin überlässt uns auch noch den Rest ihrer Pasta, Nudeln sind wirklich für jeden das Hauptgericht.
Kurz vor dem Schlafen gehen, hecken wir unseren Plan für die nächste Woche aus. Judith’s Flug von Paris nach Quebec geht Ende September, davor will sie aber noch Freunde in Paris besuchen, sie läuft also schnurstracks durch bis Santiago. Mein Flug geht am 29. September von Santiago nach Deutschland. Vor uns liegen nur noch um die 120 km und ich habe noch zehn Tage Zeit. Nach Santiago schaffe ich es in vier bis fünf Tagen, die Herbergslage sieht auch gut aus. Mein Wunschtraum noch nach Finisterre zu laufen, rückt in greifbare Nähe, was soll ich fünf Tage in Santiago gammeln, wenn ich auch weiter bis zur Küste laufen kann. Das Geld muss nur reichen, etwa zwei Mal pro Woche hebe ich Geld von meiner Visakarte ab, aber selbst ohne die Notreserve sollte es genug sein.
Ich erzähle ihr noch ein bisschen von unserer Sprache, denn sie findet es höchst seltsam, dass wir drei bestimmte Artikel haben, im Englischen gibt es immerhin nur einen. Okay, im Französischen haben die zwei.
„Zum Beispiel gibt es den Stuhl, die Treppe, das Haus. Es gibt leider keine allgemeine Regel, so heißt es auch, der Mann, die Frau, das Kind, der Junge, das Mädchen, hmm, komisch.“
Daran hängen wir uns auf, dass das Mädchen keinen weiblichen Artikel bekommt.
„Warum ist das Mädchen ein Objekt?“, lautet ihre bezeichnende Frage.
Ich weiß darauf keine Antwort und schicke am nächsten Morgen ein Hilferuf per Email an meinen Großvater, der ist Germanist und hat hoffentlich eine Antwort.
 
zurückgelegte Strecke: 656 km

Sonntag, 29. Januar 2012

Tag 20 18.9. Um den harten Weg herum

Von Ponferrada nach Pereje (30 km)
Gestern habe ich zwei Emails von Maren und Alex erhalten, in der ersten stand, dass sie nun in O Cebreiro sind, das Gebirgsdorf, in das wir erst morgen kommen werden, die zweite schrieb, dass sie schon Santiago sehen können. Alte Schummlerinnen, sie sind wahrscheinlich mit dem Zug vorgefahren, auch wenn ich der zweiten Mail keinen Glauben schenken kann, denn so schnell sind sie dann doch nicht.
Ich habe schon wieder verschlafen, das Oropax, das ich mir jede Nacht in die Ohren stecke, um die Schnarcher zu übergehen, ist anscheinend zu gut, obwohl ich normalerweise den Wecker höre. Das Frühstück gebe ich mir diesmal auf dem Weg, der Rest des gestrigen Bocadillos. Ponferrada zu verlassen gestaltet sich typischerweise schwierig, man kann eine größere Stadt also schon einmal daran erkennen, wie leicht oder eher schwer man wieder hinaus findet. Wir übersehen partout Schilder, oder sie sind gar nicht vorhanden, mein Reiseführer hat keinen Stadtplan. Man würde sicher ohne jegliches Hilfsmittel hinaus finden, eine ungefähre Richtung lässt sich in Erfahrung bringen, aber die Arbeit will sich niemand machen. Die nervige Handtuch-Deutsche kreuzt meinen Weg, aber Gott sei Dank erkennt sie mich nicht, sie führt entschlossen ihre Gruppe an, weist jeden zurecht, dass es dort nicht lang geht und sie den Weg genau kennt…und dann verläuft sie sich. Ich weiß, meine Vorurteile machen mich frech, sei’s drum.
Traubenernte

Ansonsten ist der Tag absolut unspektakulär. In Campo, das auf dem Camino liegt, wurde in der letzte Nacht augenscheinlich eine große und wüste Party gefeiert, die Innenstadt ist mehr oder weniger verwüstet, auf der Straße türmen sich Berge von Glasscherben und Müll. Die Stadtreinigung ist voll und ganz mit den Aufräumarbeiten beschäftigt, wo man hintritt, tritt man auf Glas. An der Disco, die bestimmt auch etwas mit dieser Verwüstung zu tun hat, komme ich vorbei. Auch jetzt noch, wir haben bestimmt 9 Uhr, wird dort gefeiert und so mancher Spanier torkelt sturzbetrunken vom Gelände. Was war hier nur los?
In Cacabelos treffe ich die Deutschen wieder, vermutlich auch den, dem die Fahrkarte gehörte, die ich am zweiten Tag gefunden hatte, ich nenne ihn jetzt einfach in Hypothesis Peter. Er kommt immerhin aus Fredersdorf, was mit der S-Bahn um die 15 bis 20 Minuten von mir entfernt ist, aber wirklich angefreundet haben wir uns nie. Seine Gruppe muss dringend anhalten, der eine hat einen akuten Blasennotfall, um die ist er ganz sicher nicht zu beneiden. Ich sitze schweigend daneben, in die Karte vertieft und mache mich bald wieder auf die Socken. Die Gruppe holt mich immer wieder ein, setzt sich in ein Café und ist mir bald wieder auf den Fersen. In Villafranca del Bierzo lasse ich sie ziehen und mache erstmal Pause. Villafranca gilt als das kleine Santiago, einst konnten zu Tode erkrankte Pilger bereits hier ihren Sündenablass erhalten und friedlich ins Nirvana gehen. Eine alte Motivation war neben der Besichtigung des Jakobusgrabes eben auch die Erlassung aller bisherigen Sünden. Wie der Name schon vermuten lässt, war Villafranca lange von den Franzosen besiedelt. Das Städtchen wirkt sehr nett, wie ein barockes Alpendorf stechen die vornehmen Häuser aus dem Kirchturmmeer. Aber es gibt hier auch Unmengen an Touristen, ein Effekt, der immer stärker zu Tage tritt, je näher ich Santiago komme. Wie mir gesagt wurde, lassen sich viele vom Reisebus absetzen, laufen ein Stück des Weges und werden später wieder eingesammelt. Jedem das Seine, Hauptsache uns macht niemand die Herbergenplätze streitig. Kaum habe ich meine Pause beendet und die Straße betreten, zieht Judith an mir vorbei. Sie strahlt über das ganze Gesicht. Wo sind ihre Schmerzen? Achja, sie ist wieder auf Schmerztabletten, schade, dass es immer noch nicht besser wird, im schlimmsten Fall wird es sie bis Santiago quälen. Udo hat mir auch schon prophezeit, dass mich meine verletzte Sehne bis zum Ende nicht in Ruhe lassen würde. Aus dem Grund schmiere ich mir drei Mal am Tag Voltaren darauf, und drei Mal wird der Verband erneuert. Es wird besser. Nur Judith hat keine kaputte Sehne, sie hat Blasen, die müssen von selbst heilen.
Im Schlepptau ist auch Ilka, aus Deutschland, sie und Judith kennen sich schon seit Saint-Jean, weil sie sich dort ein Taxi vom Flughafen geteilt haben, Ilka gehört zu der deutschen Gruppe, der ich mich nicht anschließen möchte, auch wenn sie furchtbar nett ist, werde ich meine Entscheidung nicht revidieren.
Nicht mehr gefährlich, dank der Bande

Vor Villafranca muss man sich entscheiden, an dieser Stelle teilt sich der Weg (das hat er schon oft getan, weil es ständig kleinere Routen gibt, die anders als der Hauptweg verlaufen), aber diese Abzweigung ist eine besondere. Wenn man will, wandert man auf dem Camino Duro, eine sehr anstrengende und mühselige Plage, sie soll es wegen der grandiosen Aussicht (und eben auch wegen der Anstrengung) wert sein. Den ganzen Tag war ich am Grübeln ob ich mir das antue, es hatte einen starken Reiz auf mich ausgeübt, nur leider habe ich das Schild verpasst. Das ist eine gute Motivation, um die Strecke in ferner Zukunft noch einmal zu laufen. Man müsste den Camino Duro dann auch wirklich durchziehen, denn der einzige nächste Herbergsort wäre Trabadelo, wo wir heute hin wollten, aber soweit kommt es nicht.
Da wir den Camino Duro verfehlt haben, bleibt uns noch der normale Camino neben der Landstraße und unterhalb der Bergautobahn, entsprechend laut ist hier. Vor vielen Jahren, als Hape Kerkeling selbst noch Pilger war, war der Camino gleich der Landstraße, es gab keine gesonderte Strecke und auf viele Kilometer musste sich der Pilger den Camino mit rasenden Lastern und Autos teilen, eine höchst gefährliche und nervenaufreibende Angelegenheit, die auch nur zu bildlich in Hapes Buch beschrieben wird. Doch nach Hape gab es das eine oder andere Heilige Jahr mit gewaltigen Pilgermassen, nicht zuletzt weil das Buch des Komikers vielen Deutschen den Camino erst in ihr Gedächtnis gerufen hat. Deshalb wurde ein eigener Weg neben der Straße gebahnt und mit einer kleinen Betonmauer abgegrenzt. Das schönste Stück Weg ist es sicher nicht, auf Beton laufen kann ich auch in Berlin, aber immerhin wird man hier nicht über den Haufen gefahren, das genügt schon.
Wir drei entscheiden uns in Pereje zu bleiben. Der Ort zählt nicht mehr als ein paar Häuser, eine Herberge und eine Bar. Wir haben die Befürchtung keinen Schlafplatz mehr zu bekommen, die deutsche Gruppe hat Ilka das letzte Bett freigehalten, aber glücklicherweise haben sie das Kellergeschoss und den darin liegenden zweiten Schlafsaal übersehen, Judith und ich haben freie Bettenwahl, noch, denn nachdem ich meine Sachen gewaschen habe, füllt sich das Haus bis unters Dach. Im Dachstuhl steht übrigens der Herd, der mir sehr gelegen kommt, ich habe noch eine volle Tüte Nudeln im Gepäck, natürlich nicht alles auf einmal.
Zum Abend sitzt die ganze Herberge in der ortsansässigen Bar, wohin auch sonst? Judith labt sich am Pilgermenü und kostet den Wein, der auch ziemlich lecker ist. Am Tisch neben uns sitzt die deutsche Gruppe. An dieser Stelle kann ich nun erklären, wieso ich die eine von ihnen Handtuch-Oma getauft habe. In früheren Sommern sind wir viel vereist, ans Meer und nach Möglichkeit im europäischen Ausland. Überall, wo man hingeht, es sind stets auch Deutsche dabei. Und jeder kennt sicher das Phänomen, dass besonders die Deutschen extra früh aufstehen, um am Pool eine Liege zu reservieren, mit ihren Handtuch. Die Idee ist gleichsam genial wie abstoßend, denn leider haben sich das andere Nationalitäten abgeschaut. Auch die Warnschilder, dies doch zu unterlassen, stoßen auf taube Ohren oder eher blinde Augen. Überall, wo wir bisher waren, gab es wie gesagt auch den einen oder anderen Deutschen. Nach einer Woche aber waren es viele, wie sich Eisenspäne um einen Magneten sammeln, wachsen die Deutschen zu einer großen Traube heran, die dann immer am lautesten im Hotelfoyer den Ton angibt. Ich war auch mal in so einer Gruppe, in der Türkei, war nicht mehr schön. Niemand soll hier kritisiert werden, das ist bloß meine Ansicht.
Und die besagte deutsche Gruppe ist nunmal zu einer großen Traube gewachsen. Dem möchte ich mich nicht anschließen, ich genieße eher eine bunte Mischung. Mein Opa hat dies folgendermaßen kommentiert: „Auf Konferenzen habe ich mich stets zu den ausländischen Teilnehmern gesetzt, weil ich mit Leuten aus anderen Ländern als mit meinen Landsleuten sprechen wollte.“ Der Punkt ist, ich bin überzeugt, dass ich viel mehr über andere Länder lerne, wenn ich mit denen agiere, in einer mononationalen Gruppe geht das aber kaum.

Einige von denen haben noch nicht geschnallt, dass ich Deutscher bin, wie auch, ich sage schließlich kein Wort, um mein Inkognito nicht zu verraten. Der Typ aus Fredersdorf bittet mich in Englisch von der Truppe ein Foto zu machen, Ilka klärt in schließlich auf, dass er mich auch auf Deutsch fragen kann, und damit ist es dann auch geklärt. Wenig später bekomme ich den Namen Edelpilger, laut der Erklärung, weil mein Outfit perfekt aufeinander abgestimmt ist, vielleicht aber auch, weil ich sie meide, aber das denke ich nur bei mir.
Judith ist von dieser Show allzu belustigt, sie zieht mich eben gerne damit auf und meint tagsüber als Scherz „Come on, Christian, let’s meet the Germans“. Es hat sich zu einem running gag entwickelt.
Viel verrückter finde ich dagegen ihre Geschichte, dass sie jedes Jahr aus 55 Kilo Tomaten Pasta macht, die dann auch für eine lange Zeit reicht, bis im darauf folgenden Jahr neue kommt. Man möge sich vorstellen, über ein Zentner, drei bis vier normale Rispentomaten bringen etwa ein Kilo auf die Waage, sie hortet also hunderte davon im Appartement und bestätigt meine Vorahnung, dass für ein Wochenende die Wohnung ganz in Rot gekleidet ist. Die Aktion bewältigt sie in zwei Kochdurchgängen, der Topf muss riesig sein, wenn dort fast 30 Kilo Tomaten hineinpassen. Ich habe mir eine verrückte Wanderkumpanin ausgesucht. Bis heute habe ich es nicht geschafft, sie um die vielen Puddingrezepte zu bitten, denn davon hat sie anscheinend genug, mir läuft bald das Wasser im Munde zusammen.
 
zurückgelegte Strecke: 610 km

Mittwoch, 25. Januar 2012

Tag 19 17.9. Das Eisenkreuz

Cruz de ferro
Von Santa Catalina nach Ponferrada (46 km)
Es hat seit gestern Nachmittag stetig weiter geregnet, als müsste der Himmel die Trockenheit der letzten Wochen mit einem Mal ausgleichen. Unsere Schuhe standen regensicher und mit Zeitungspapier ausgestopft im Schlafsaal, dort wäre es warm genug zum Trocknen, aber das haben die nicht geschafft, sie sind noch feucht. Dafür passen sie jetzt hervorragend, meine Socken halten die Feuchte zum Glück von meinen Füßen fern.
Abermals ist die Wanderung durch die Mondnacht zutiefst beeindruckend, ich wünschte ich hätte eine bessere Kamera dabei und nicht diese Digicam, zu gerne würde ich anständige Nachtfotos machen. Meine kanadische Begleitung bleibt wenige hundert Meter hinter mir, das hat sich so ergeben. Es passiert einfach, wenn man in seiner eigenen Geschwindigkeit läuft. Frühstück in Rabanal del Camino, der Ort ist wirklich schön, hier hätte ich gerne genächtigt. Das Dorf scheint einst recht wohlhabend gewesen zu sein oder zumindest über genug Geld verfügt zu haben, um sich eine prächtige Pflastersteinstraße leisten zu können. Die Straße beginnt leicht anzusteigen, ein erster Hinweis, dass wir endlich die Berge betreten, darauf haben wir lange gewartet. Im Norden konnte man sie stets sehen, die Ausläufer der Pyrenäen, weit im Westen, dort, wo wir uns jetzt befinden, machen sie einen Schlenker nach Süden und kreuzen den Camino francés. Der letzte reguläre Ort auf dieser Seite ist Foncebadón, ein klassisches Bergdorf, die Zeit scheint hier still zu stehen. Wenn es keine Autos gäbe, hätte ich den Ort 500 Jahre früher eingeordnet.
Wohin als nächstes?
An der Bergflanke verläuft die Straße in engen, steil ansteigenden Kurven und am der Kuppe sieht es wie ein normaler Bergwanderweg aus: steinig, holprig, wenig Bäume, viele Sträucher und eine bezaubernde Aussicht. Das Pilgerkreuz zeigt sich erst, als wir wieder die Landstraße betreten, denn direkt an deren Seite befindet es sich. Das Cruz de ferro, grob übersetzt Eisenkreuz, ist ein schlichtes eisernes Kreuz, das hoch auf einem langen, mächtigen Holzpfahl angebracht ist. Um dem üblichen Vandalismus vorzubeugen, hat der Stamm einen Eisenkern und ist unten zusätzlich mit Blech ummantelt. Das Fundament des Kreuzes ist ein übergroßer Steinhaufen, der stetig wächst. Es ist nämlich Brauch einen Stein von zu Hause mitzubringen und hier abzulegen, als Symbol der mitgetragenen Lasten und Sorgen, derer man sich nun entledigen kann. Als angehender Geologe ist es für mich eine Selbstverständlichkeit, nicht irgendeinen Kieselstein vom Strand oder aus dem Garten mitzunehmen. In den Alpen fand ich einen großen Quarzblock, direkt an der Flanke des Mallnocks. Dieser Quarz ist eine Folge der Gesteinsmetamorphose, die das Gestein des Mallnocks erfahren hat. Bei etwa 300°C wurde der Quarz in der Tiefe aufgeschmolzen und hat sich zusammen mit dem Wasser aus dem umgebenden Gestein entfernt. Ähnlich wie Wasser sich in Rinnsalen sammelt, hat sich der Quarz zu Gängen formiert, ist abgekühlt und kann heute als Block an der Erdoberfläche angefunden werden. Den Block habe ich mit nach Berlin genommen und dort im Hinterhof von Philips Wohnung zertrümmert. Ein Teil wanderte in meinen Rucksack, der andere mit nach Hause.
Vom Cruz de Ferro habe ich persönlich mehr erwartet, ein wenig romantisch war wohl meine Vorstellung, es würde sich auf dem Berggipfel befinden, weitläufiger Blick zu allen Seiten, und das Kreuz war in meiner Vorstellung auch größer. Aber dem ist nicht so, der Steinhaufen liegt direkt an der ruhigen Landstraße, hoch sind wir, aber auf einer großen Waldlichtung. Für den kleinen touristischer Magneten hat man um das Kreuz einen Picknickplatz errichtet, jedoch vergessen, auch Toiletten, Brunnen und Mülleimer anzubringen, es gibt also eigentlich nur Bänke.
Wir bleiben nur eine halbe Stunde hier und nachdem ich meinen Stein abgelegt habe, ziehen wir weiter. Es geht vorrangig leicht bergab bis nach Manjarín, ein seltsamer Ort. Ich finde, man kann es nicht wirklich Ort nennen, wie schon bei Sanbol, steht hier eigentlich nur ein Haus, und zwar die Templerherberge. Dabei handelt es sich um eine Holzhütte, Latrine gegenüber auf der anderen Straßenseite. Ein Freund hat sie mir wärmstens empfohlen, es soll hier sehr familiär und fürsorglich zugehen. Trotzdem will ich nicht hier bleiben, und es ist noch viel zu früh dafür. Der Weg steigt wieder an, die meisten Pilger denken, dass das Kreuz der höchste Punkt des Berges ist, aber damit liegen sie falsch. Ein Blick auf das Höhenprofil in meinem Reiseführer offenbart, dass es noch 50 Meter höher geht, das ist nicht viel und über die Strecke verteilt auch nicht wirklich steil. Aber viele sind darauf eben nicht vorbereitet und gehen für kurze Zeit gehörig in die Knie.
Geologie: Berufskrankheit
Hinter dem Kloster, das zum eigentlichen Manjarín gehört, geht es dann nur noch nach unten und hier wird uns ein Panoramablick erster Güte gewährt, da wir nun auch Ponferrada in der Ferne erkennen zu können, den ganzen Berg müssen wir jetzt wieder hinunter, die Sonne steht hoch über uns, wirklich heiß ist es aber nicht. An den fernen Berggipfeln kleben vereinzelt weiße Wolken, ansonsten ist der Himmel strahlend blau.
Heute ist ein großartiger Tag, wir fühlen uns topfit, haben hervorragendes Wetter und genießen die Sicht zu allen Seiten. Ich mag das Gefühl, über einen Bergkamm zu laufen, während es links und rechts nichts gibt, was einen überragt, weil der Boden mit trockenen Sträuchern bedeckt ist.
Als wir die Straße überqueren müssen, sind Judith und ich gerade in ein Gespräch über diesen tollen Tag vertieft. Es kommt uns ein Auto entgegen, hält mitten auf der Straße, und ein Mann springt mit einer Karte heraus. Es ist nicht viel Grips nötig, um zu klären, dass er es auf uns abgesehen hat, denn wir sind die einzigen Menschen weit und breit. Er hält auch direkt auf uns zu, Judith verzieht sich etwas in den Hintergrund und der Mann spricht mich an.
„Können Sie mir sagen, wo es hier zum Kreuz des Südens geht?“, fragt er ohne Umschweife auf Deutsch.
Ich brauche einen kurzen Moment, um die Überraschung zu verarbeiten und frage anschließend: „Das Kreuz des Südens? Keine Ahnung, ob es das überhaupt gibt. Ich glaube eher Sie meinen das Cruz de Ferro. Kreuz aus Eisen?“
„Jaja“, er stimmt mit heftigem Kopfnicken ein.
Ich zeige auf der Karte wo wir sind und wo sich das Kreuz befindet. „Sie brauchen die Karte nicht, bleiben Sie einfach auf der Straße in dieser Richtung, es ist nicht zu verfehlen.“
Damit verschwindet er wieder im Auto und braust davon, Judith steht mit herunter geklappter Kinnlade am Wegesrand.
„Woher weiß er, dass du Deutscher bist?“
Genau die Frage geistert auch durch meinen Kopf.
„Entweder seh' ich unglaublich deutsch aus, was ich nicht hoffe, oder der Mann kann nichts anderes als deutsch. Ich bete für letzteres.“
Es muss einfach das letzte sein. Judith und ich haben uns nur in Englisch unterhalten, was soll er da gehört haben?
„Ich meine, ich kann kein Wort deiner Sprache“, sagt sie, „trotzdem habe ich mitbekommen, dass ihr deutsch redet. Man hört das einfach.“
Da mag sie Recht haben, um es direkt zu sagen, klingt Deutsch abgehackt und militärisch. Das beschäftigt uns die restliche Zeit.
In El Acebo machen wir noch einmal Pause, wir brauchen dringend Wassernachschub und die eine Bar macht wunderbar leckere Bocadillos. Der Ort lebt geradezu von den Pilgern, entlang der Hauptstraße stehen zwei Restaurants und ein winziger Supermarkt. Jeder Mensch hält hier an und setzt sich in den Schatten. Mary und ihre Freundin sind ebenfalls hier und lassen sich das Tagesmenü inklusive Wein gut schmecken. Am Wegesrand präsentieren sich mir gut aufgeschlossene Schiefer und Falten, Schiefer und Quarzgänge habe ich auch schon weiter bergauf gefunden. Zu gerne wüsste ich mehr über die geologische Geschichte Nordspaniens. Soweit ich das mitbekommen habe: das kantabrische Gebirge, in dem wir uns derzeit befinden ist der westliche Ausläufer der Pyrenäen und entstand gemeinsam mit den Alpen während der alpidischen Orogenese. Wie wäre es mit einer Exkursion hierher? Meine Infos sind nämlich allzu dürftig.
Weiter marschieren, weiter bergab, um die 800 Höhenmeter sind es bis nach unten, dort irgendwo am Fuß der Berge, wo wir hin möchten. Schon wieder joggen wir hinunter, aber hier macht es weitaus mehr Spaß als in den sanften Hügeln von Rioja, hier sind es Bergpfade oder nicht einmal das, sondern nur große Felsen, über die der "Weg" führt. Dank dieser kuriosen Technik betreten wir schneller als wir dachten das idyllische Dorf namens Molinaseca und werfen uns für eine Unterbrechung in den Park am Flussufer. Der Ort ist zauberhaft, wenn man über die Brücke läuft, hat man einen fabelhaften Blick auf die Kirche zur Linken, die Dächer der Altstadt zur Front und den Park zur Rechten, das sonnige Wetter tut sein übriges.
Judith ruht sich noch eine Weile aus, ich will mich jetzt entscheiden, ob ich hier bleibe oder weiter gehe. Der Ort hat seinen Charme, dass muss gesagt werden. Aber bis Ponferrada sind es nur noch 8 km, die zerren auch an mir. Ich gehe weiter, Judith wird nachkommen. Mein Tempo ziehe ich diesmal enorm an und rase über die Straßen, einige Male finde ich keine Hinweisschilder mehr (das ist für den Camino francés höchst ungewöhnlich, man kann normalerweise ohne Karte laufen, die Schilder sind überall) und ich denke schon, dass ich mich verlaufen habe. Naja, ich bin noch auf der richtigen Route und schließe die letzten 8 km in einer Stunde ab, das tut ungemein gut. Zur Herberge muss ich mich durchfragen, ich habe nicht den blassesten Schimmer, wo die sich befindet. An der "Rezeption" sitzen bereits zwei des Italienertrios, leider ausgerechnet die, deren Namen ich nicht kenne, die aber trotzdem irre freundlich sind.
Es ist jetzt 17 Uhr, damit sind wir 11 Stunden unterwegs gewesen, das gefällt mir, kann's weiter gehen? Judith kommt eine Stunde später an, als ich mich gerade zum Supermarkt verdrücken will. Im Hof der Herberge steht ein Springbrunnen, dort hat sich einer der Italiener hingesetzt und hält seine Füße ins Wasser. Nach einer halben Stunde kehre ich mit Essen in den Taschen wieder zurück und der Typ sitzt immer noch da. Für eine Stadtbesichtigung ist heute leider keine Zeit mehr, dafür sind wir zu spät angekommen. In der großen Küche wird wieder gemeinschaftlich gekocht. Am Tisch mit mir sitzt ein französisches Ehepaar, aber wir unterhalten uns in Englisch. Der Mann fragt mich nach meiner Motivation und ich antworte schlicht, dass es mir um den Sport und die Kultur geht. Natürlich drückt er auf den religiösen Knopf und will anschließend wissen, was ich studiere. Und jetzt reden wir aneinander vorbei. Statt Geologie versteht er Theologie und fällt natürlich aus allen Wolken ob der Tatsache, dass ich konfessionslos bin. Wir diskutieren lange darüber, bis mir klar wird, dass er mich einfach nur falsch verstanden hat.
Die beiden haben einen Narren an mir gefressen, sagen sie, weil ich noch so jung bin und schenken mir den Rest ihrer Tomaten. Ich halte das ein bisschen für übertrieben, einerseits bin ich der jüngste hier, so viel ist klar. Aber wann in meinem Leben habe ich wieder so viel Zeit wie in den Semesterferien? Es gibt auch noch andere in meinem Alter, nur sind die heute Abend nicht hier.
Als ich später am Abend wieder in den Speisesaal zurückkehre, nachdem ich mich lang und breit mit Nicolien, Thomas und Udo unterhalten habe, finde ich dort Judith an einem Tisch sitzend, vor ihr türmt sich ein Berg mit Essen, ihre Augen fallen ihr vor Ungläubigkeit beinahe aus dem Kopf.
v.r.: Damian, Judith, Ich, Mary
"Christian, gut, dass du hier bist. Du musst mir helfen. Die Pilger haben mir das ganze Zeug hier geschenkt, aber ich schaff das nicht alleine."
Nichts leichter als das, zu uns gesellen sich dann noch Mary und ihre Freundin und Damian, aus Polen. Das zweite Abendbrot besteht mehr oder weniger aus einer Prinzenrolle, Streichkäse, viel Brot und genug Pasta und Salat, um eine Armee zu versorgen.
"Christian, weißt du eigentlich, wie viel wir heute gelaufen sind?", fragt mich Judith, während ich den Mund voll Brot habe.
"Ich denke so um die 40 km."
"Ich habe es noch einmal nachgerechnet, es waren 46 km."
"Du machst Witze oder? Warum geht es uns dann noch so gut?"
"Ich kann es auch nicht glauben, am liebsten würde ich gleich weiter marschieren", antwortet sie.
Ich weiß, 46 km sind für manche nicht der Hammer, und bestimmt auch nicht mit einem Gewaltmarsch der Armee zu vergleichen. Aber für uns ist das eine Premiere, abgesehen davon, dass es heute der beste Tag seit Reiseantritt war, haben wir ohne Probleme die 46 geknackt. Heute bin ich stolz auf uns.

zurückgelegte Strecke: 580 km

Sonntag, 22. Januar 2012

Tag 18 16.9. Durch den Sturm

Von Hospital de Orbigo nach Santa Catalina (27 km)
Meine Güte, bin ich müde heute, ich komme mir vor, als hätte ich die ganze Nacht kein Auge zugemacht, dabei habe ich geschlafen wie ein Stein. Judith und ich sind die ersten, die zu dieser frühen Stunde die Herberge verlassen, das Dorf schlummert noch und als wir es verlassen, stehen wir inmitten der leeren, weiten, vom Mondlicht nur schwach beschienenen Landschaft. In der Nacht hat es geregnet, das habe ich nicht gehört, aber der ehemalige Sandweg ist nun schlammig und mit Pfützen übersät. Nach Sonnenaufgang sind wir auf einen kleinen Sattel gestiegen und können in der Ferne über den Bergen dichte, graue Wolken mit gelegentlichen Blitzen ausmachen, das wird uns wahrscheinlich auch noch blühen. Just als wir das Dorf Santibañez durchqueren, bekommen wir einen Regenschauer ab, der allerdings nur fünf Minuten anhält. Wir haben überlegt, das Ende abzuwarten, nur lässt sich das unmöglich abschätzen und ehrlich gesagt weigern wir uns wegen ein bisschen Regen die Wanderung zu unterbrechen.
Auf dem Jakobsweg gibt es nur zwei sehr einfache Regeln. Erstens: du musst laufen. Was willst du machen, wenn du mitten in der Pampa stehst oder gerade keinen Herbergsplatz abbekommen hast. Sowieso kann man nur eine Nacht in der gleichen Herberge, meist nicht mal im gleichen Ort verbringen. Man muss seinen Hintern bewegen und vom Fleck kommen, Santiago kommt dir gewiss nicht entgegen. Jeden Morgen muss ich mich aufs Neue zwingen, das Bett zu verlassen, der Kampf dauert nur drei Sekunden, aber eine leise Stimme spricht unentwegt: „bleib doch im Bett“. Ob mit Blasen oder anderen Verletzungen, man muss laufen. Obendrein gibt es hier nichts schöneres, als seine Beine dazu zu bringen, dass sie einen 40 km tragen, am Ende des Tages ist es ein triumphierendes Gefühl, dafür lohnen sich die Strapazen.
Stadt der Schokolade
Zweitens: sage niemals nie. Dafür habe ich zwei Paradebeispiele. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, nach Villamajor ein solch glückliches Ende zu erleben und da wurde ich eines besseren belehrt. Ebenso hatte ich nie wieder mit Jan, Anne und Brenda gerechnet und alle drei traf ich in Burgos wieder. Selbst Judith hatte ich nach Burgos verloren und in Sahagún wieder gefunden. Der Jakobsweg hält viele Überraschungen bereit, mit denen man vorher nicht im geringsten rechnet. Hab ich gewusst, dass Hospital de Orbigo so schön sein kann, als ich es betreten hatte? Nein, niemals, hab ich mir gesagt.
Es ist besser, wenn uns ein kleiner Regenschauer nicht vom Laufen abhält, ohnehin ist danach umso ruhiger. In dieser Ruhe pocht Judith an die Tür des Geologen und zeigt nach links, dort liegt eine Art Aufschluss, von Weitem sieht es zumindest danach aus. Ich begebe mich auf dem sandigen und schlammigen Untergrund an die Steilwand und schau sie mir aus der Nähe an, hier gibt es aber keine Gesteine, das ist alles Boden auf einer Anhöhe, die durch Menschen oder Natur angeschnitten wurde.
Das Gaudi-Haus
Im Weitergehen frage ich Judith über ihr Zuhause aus, das sie uns gestern gezeigt hat. Sie und ihr Mann renovieren gerade das Untergeschoss und überlegen es an andere zu vermieten, nebenbei vermieten sie noch kleinere Wohnungen, das wirft aber noch nicht genug ab, um alleine davon leben zu können. Die Wohnsituation in Quebec sieht anscheinend sehr gut aus, zumindest aus ihrer Sicht, die Meinung lässt sich schwer hinterfragen, eine andere gibt es nämlich nicht.
Jean-Luc wird in den nächsten zwei Wochen nicht zu Hause sein, er muss in die Region Inuvik fahren, um dort Schweißarbeiten abzunehmen. Welch ein Zufall, Inuvik ist die einzige nordkanadische Region, die mir etwas sagt, weil wir im 3. Semester in Sedimentologie mehrere Zusammenfassungen zu Luftbildern schreiben mussten, unter meinen war auch ein Bild eines Flusses, der durch Inuvik fließt, es gibt darüber tolle Fotos im Netz. Ganz ungefährlich ist es dort oben aber nicht, im Winter fahren auf den dortigen Straßen die großen Iceroad-Trucks, mit Rädern größer als Menschen.
Zu guter Letzt erzählt mir Judith mehr über ihre Arbeit, oder vielmehr von einem ihrer Projekte. Als ich von meiner Leidenschaft des Tauchens berichte, präsentiert sie, dass sie eine Anfrage von kanadischen Tauchern bekommen hat, die ein Schiffswrack im Sankt-Lorentz-Strom erkunden wollen. Einerseits geht es um die Übersetzung alter Dokumente, die auf den Grund sanken und andererseits wahrscheinlich auch um die Kommunikation. Und leider ist die Technik noch lange nicht ausgereift, um die Wracks kosteneffizient zu bergen.
Wir betreten Astorga um die Mittagszeit und verdrücken uns in ein Café zum Mittagessen. Wie es nun weitergeht, ist uns noch nicht ganz klar. Gehen wir bis Rabanal oder noch weiter, oder werden wir das unterwegs entscheiden? Astorga sieht auch sehr schön aus, die Stadt pulsiert, alles scheint vom Hauptplatz am Justizpalast auszugehen. Nebenbei bemerkt ist Astorga auch die Stadt der Schokolade, das wusste ich vorher nicht. In einer Schokoladenmanufaktur kaufen wir uns handgefertigte Schokolade, die selbstverständlich ihren Preis hat, aber alles Geld der Welt wert ist. Innerhalb weniger Minuten ist die Tafel verputzt, die Schokolade ist dermaßen köstlich, ich kann es nicht beschreiben, ihr müsst einfach nach Astorga fahren und euch selbst ein Bild machen.
Judith möchte das Gaudi-Haus besichtigen, ich habe auch davon noch nie gehört und lasse mich überreden sie zu begleiten. Der Bau sieht von außen ganz angenehm aus, es ist aus weißen Backsteinen erbaut und thront inmitten der Altstadt, neben der Kathedrale. Innerhalb des Hauses ist das Fotografieren untersagt, daher habe ich leider keine Bilder anzubieten. Das Erdgeschoss ist noch ansehnlich. Eigentlich ist es ein Pilgermuseum, was immer das heißen mag. Die eindrucksvollsten Exponate sind meiner Meinung nach ein uraltes Herbergsbuch aus dem Mittelalter und eine Karte von Westeuropa, ebenfalls aus alten Zeiten, welche die damaligen bekannten Routen nach Santiago abbildet. Der Keller erinnert mich an das Pergamon-Museum, hier liegen alte Markierungssteine und Überreste der Stadtmauer, noch aus römischer Zeit. In der zweiten Etage gibt es einen Kirchenschock, hier sieht es aus, als hätte man die Kathedrale von Burgos ausgeraubt und das Diebesgut hierher gebracht. Überall glänzen mich silberne und goldene Kreuze an, eines größer und verzierter als das andere. Der Jakob als Matamoros darf natürlich nicht fehlen und ist so gut wie überall abgebildet. Dazu gibt es noch ein paar Gemälde, die Bibelszenen zeigen. Im obersten Geschoss verliert das Museum endgültig den Bezug zum Pilgern, dort finden sich postmoderne und überaus abstrakte Bilder, einmal mehr frage ich mich, was jener Künstler damit ausdrücken möchte.
Mittelalterliche Jakobswege
So richtig ein Pilgermuseum war das jetzt nicht, aber sicher eine kleine Bereicherung auf dem weiten Weg nach Santiago. Wir haben ja nun mehr als die Hälfte hinter uns gebracht, sind gut auf das Wandern trainiert. Was kommt als nächstes? Die nächste größere Stadt ist Ponferrada, aber einen Brocken wie Pamplona, León oder Burgos gibt es jetzt nicht mehr.
Die Kathedrale lassen wir links liegen, wir wollen endlich weiter. Im nächsten Dorf verschwindet Judith schnell auf die Toilette und ich habe genug Zeit, mir die fantastische Gewitterfront anzusehen. Weit vor uns über den Bergen bauen sich riesige schwarze Wolken auf, nein, nicht nur vor uns, auch links und rechts, als würde ich in eine finstere Halbkugel blicken. Ständig blitzt es, der Donner braucht seine Zeit, um uns zu erreichen und deutlich kann man die Regenschwaden sehen, die zu Boden prasseln. Da müssen wir durch.
Judith’s Augen weiten sich, vor Überraschung und vor Freude, als sie das Kommende sieht. Ich kann sie voll und ganz verstehen. Wochenlang hatten wir prallen Sonnenschein, ab und an ein bisschen Regen, aber das dort sprengt jeden Rahmen. Nur in den Alpen war es eindrucksvoller. Dort stand ich mit Michel und Phil, meiner Kartiergruppe, mitten in einem Schuttfächer an der Bergflanke, als wir den Donner hörten (das eindeutige Zeichen, sich auf die Socken zu machen) und rabenschwarze Wolken wie flutendes Wasser über den Bergkamm preschten. Wir nahmen die Beine in die Hand und liefen so schnell und sicher es ging ins Tal hinab, der einzige Weg hinaus aus der Misere. „Mit Hatz und Bedacht“, war das Motto. Unten angekommen warfen wir uns in die Regensachen, verstauten alles nicht-regenfeste in den Rucksäcken und wurden vom Regen heimgesucht. In der Talebene waren wir der höchste Punkt, andauernd blitzte es, auf einmal rannte Phil uns davon, nur um von der Ebene zu verschwinden, guter Mann.
Genau in solch ein Gewitter marschieren wir jetzt ein. Wir überholen zwei schwedische Frauen, die uns entgeistert ansehen, auf unseren Regenschutz deuten und fragen: „Ist das wirklich nötig?“ Mir bleibt die Spucke weg.
Nach dem Sturm
Der Regen kommt sehr schnell und mit ihm Blitz und Donner, ein mulmiges Gefühl habe ich schon und ziehe lieber meine hohen Stöcker ein. Judith pfeift ein Lied auf den tosenden Sturm. Der Weg ist durch zwei Trampelpfade erkennbar, wie die Spurrillen im Winter. In diesen Rillen sammelt sich all das Wasser und der Mittelstreifen wird stetig schmaler. Nach fünf Minuten ist meine Jacke komplett durchnässt und ich könnte sie jetzt ebenso gut ausziehen, die Hose ist ohnehin nicht wirklich wasserdicht und hat schon lange aufgegeben. Jetzt sind die Schuhe an der Reihe, der Wachs, den ich vor der Reise aufgetragen habe, ist durch eine dicke Staubschicht überdeckt, aber alles Wasser kann auch er nicht abhalten und letzten Endes sind es ja Lederschuhe, die sind jetzt auch nass. Das einzig trockene ist mein Rucksack, dessen Regenhülle ist zu 100% wasserdicht. Weitere fünf Minuten vergehen und der Regen hört auf, Judith und ich sind etwas betrübt. Aber an uns wird gedacht und der Regen kommt wieder, noch stärker als davor und begleitet von einem Hagelschauer, das lässt mich in schallendes Lachen ausbrechen.
Durch den Weltuntergang kämpfen wir uns Schritt für Schritt vorwärts, allmählich müssen wir auf die Straße neben uns ausweichen, denn der Weg steht komplett unter Wasser, das würde jetzt auch keinen großen Unterschied machen, ist aber unbequem. Auf der Straße laufen wir nur ein paar Minuten bis wir den Ort Santa Catalina de Comoza betreten, der Regen versiegt nun völlig und in der Stille hören wir bei jedem Schritt ein kräftiges Schmatzen unserer Schuhe.
Wir beschließen die Etappe abzubrechen und den Tag für heute zu beenden. El Ganso liegt zu weit weg, als das wir es unter diesen Umständen gut erreichen könnten, zumal die Gefahr vor Blasen bei nassen Schuhe extrem hoch ist, aber wenigstens ist die Suppe um den Füßen herum schön warm.
In der Herberge mopsen wir uns eine Zeitung, um die Schuhe damit auszustopfen, mehr schlecht als recht, denn viel Papier ist das nun auch nicht. Hier heißt es sparsam zu sein. Judith schaut sich das Dorf an, ich falle ins Bett und schlafe augenblicklich ein. Nach der Ruhezeit streife ich durch die Bars, um zu sehen, wen es sonst noch hierher verschlagen hat. Dort sitzt Harald, der Schweizer, an einem Tisch und als er mich sieht, steht er sofort auf, durchquert den Raum mit großen Schritten und umarmt mich mit einem strahlenden Gesicht, als wäre ich sein verschollener Sohn, so sehr freut er sich, mich zu sehen.
Zum Schreiben verdrücke ich mich in unsere Bar, da ist es ruhiger, nebenbei läuft der Fernseher, so darf ich drei spanische Seifenopern genießen, die ungelogen grottenschlecht sind. Ich bin mir sicher, dass selbst „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ mehr Stil hat und bessere Dialoge bietet. Eine Pilgerin vom Nachbartisch kommt auf mich zu und fragt mich, ob ich ein Freund ihres Sohnes bin.
„Wie bitte?“, die einzige erstaunte Frage, die ich herausbringen kann.
Es zeigt sich, dass ich besagtem Menschen wie aus dem Gesicht geschnitten bin. Aber ich bin immer noch ich und ich habe auch keine Verwandtschaft in den Niederlanden, wie sie nachhakt. Manchmal ist die Welt eben ein Dorf, da sieht jemand so aus wie ich und ist auch nicht allzu weit entfernt von Deutschland.
Ich habe vergessen meinen Reiseführer aus meiner Hose zu nehmen, als wir durch das Gewitter liefen. Der ist jetzt klitschnass, die Seiten kleben fest zusammen und zerreißen sehr leicht. Judith hat Langeweile, schnappt ihn sich und blättert jede Seite einzeln um, um anschließend Papier hinein zu legen.
Entgeistert frage ich sie, warum sie das tut. Das Buch ist dahin.
„Es ist eine gute Übung in Geduld. Die ersten Seiten sind verloren, aber das Ende, worauf es jetzt noch ankommt, ist dir geblieben.“
Die Zeit fliegt dahin und ehe ich mich versehe, ist es schon 19 Uhr, das Abendessen kann aufgetischt werden. Ich habe mich kurz davor aus meinem Rucksack bedient und bestellte mir nachträglich noch ein Bocadillo, die Hälfte jetzt, die andere für das morgige Frühstück.
Judith haut ordentlich rein. Wir kommen abermals auf ihre Familie zu sprechen. Grund dafür ist ein schreiendes Kleinkind einer Frau aus dem Dorf.
„Wundert mich nicht, dass es schreit, um die Uhrzeit. Es sollte längst im Bett sein“, konstatiert sie. „Meine Kinder hab ich so erzogen, dass sie um neun freiwillig schlafen gehen. Eines Abends wollte Charles noch Schokolade essen, er ist der einzige von beiden, der das mag. Ich hab ihm gesagt ‚Charles, ich möchte nicht, dass du nach 8 Uhr noch Schokolade isst, dort ist Koffein drin und dann kannst du nicht mehr einschlafen‘ und er hat es geschluckt. Kinder wollen keine strikten Verbote, sie wollen es erklärt haben, damit hat er sich zufrieden gegeben.
Einmal waren Jean-Luc und ich verreist und meine Mutter hat auf die Zwillinge aufgepasst. Sie ist ein kleiner Rebell und gibt ihnen alles, was abseits der Spur liegt. ‚Bei mir könnt ihr auch nachts noch Schokolade essen‘ ist ihr Motto. Aber Charles hat das ganz cool abgeblockt und gemeint, dass er das lieber nicht will, weil ihn das Koffein wacht hält. Da dachte ich, wow, ich hätte niemals auf meine Mutter gehört, er schon.
Ohnehin sind für ihr Alter sehr erwachsen.“
„Wie jetzt“, unterbreche ich. „Okay, es ist beeindruckend, dass er sich der Rationalität fügt.“
„Nun ja, im Sommer ist er immer herumgedruckst, als Mutter bemerkt man das natürlich, also habe ich ihn gefragt, was ihm auf dem Herzen liegt, aber er ist ausgewichen. Da will ich ihn nicht drängen und meinte, er kann immer zu mir kommen, ich habe stets ein offenes Ohr für ihn, es ist besser, wenn er von sich aus den ersten Schritt macht. Am nächsten Abend wollte er es mir erzählen. ‚Näher, noch näher‘, er wollte es mir ins Ohr flüstern. ‚Ich bin verliebt‘.
‚Hey, das ist toll. Ich freue mich für dich. Und weiß sie davon?‘
‚Nein‘.
‚Aber Charles, warum nicht?‘
‚Wenn man in jemanden verliebt ist, möchte man doch Zeit mit ihm verbringen oder?‘, konterte er.
‘Ja, das ist richtig.‘
‚Das ist auf der Schule aber nicht so, die Jungs und Mädchen, die miteinander gehen, tun nichts gemeinsam. Es heißt einfach nur, wir sind jetzt zusammen, und mehr gibt es nicht. Weil ich das nicht möchte, werde ich auch nichts sagen.‘ Da war ich baff.“
Ja, und ich auch. Diese Denkweise haben nicht nicht einmal viele in meinem Alter, auch nicht davor. Überhaupt muss man schon sehr rational an die Sache herangehen, um auf solche Gedanken zu kommen. Mit Fug und Recht kann man dies erwachsen nennen. Und der Junge ist 11 Jahre alt.
„Nächstes Beispiel. Im nächsten Jahr kommen Charles und Didier auf die Oberschule. Ich habe beide einzeln gefragt, ob sie denn gemeinsam auf die gleiche Schule gehen möchten. Beide haben es verneint, mit der Begründung, dass sie nicht alles gemeinsam machen sollten und auch andere Menschen kennen lernen wollen, zu Hause sehen sie sich ja immer noch.“
Mir bleibt erneut die Spucke weg. Judith zieht zwei Denker groß. In dem Alter war ich ein Wirbelwind, hatte eine blühende Fantasie und war in der Schule irre leicht ablenkbar, für kluge Gedanken gab es bei mir kaum Nährboden. Ich bin gespannt, was aus beiden wird, wenn sie 18 werden und wie sich ihr Leben dann entwickelt.
Wir unterhalten uns nicht bis in die Puppen, die Müdigkeit ruft. Judith hat den ehrgeizigen Plan morgen nach Ponferrada zu laufen, ich weiß nicht wie weit das ist, aber es sind bestimmt über 40 km. Ich bin unentschlossen und habe noch kein Ziel. Aber wir erreichen endlich das Cruz de Ferro, darauf freue ich mich schon seit Reisebeginn.

zurückgelegte Strecke: 534 km

Samstag, 21. Januar 2012

Tag 17 15.9. Zur Pilgerbrücke

Da wohnen die Hobbits
Von León nach Hospital de Orbigo (38 km)
Die Nacht war kurz, der Morgen ist hart, ich will eigentlich nicht aufstehen und muss mich zwingen, die Beine über das Bett zu schwingen. Wenn man erst einmal steht und bald die Herberge verlassen hat, geht es etwas leichter. Nur meine Laune ist total im Keller, ich weiß nicht warum, aber ich bin einfach nur schlecht gelaunt und ohne Antrieb.
Es gibt kein Frühstück, ich will erstmal aus der Stadt raus. Ich komme an einem McDonalds vorbei, ein Burger zum Frühstück hätte mir schon gefallen, aber das Lokal ist zu dieser frühen Stunde noch nicht offen. Es war die richtige Entscheidung am Fluss entlang zu gehen, dieser Weg ist viel kürzer, als wenn ich erst die Route in der Altstadt gesucht hätte und der Camino muss letzten Endes den Fluss überqueren, der sich neben mir seinen Weg bahnt.
Ich folge einfach dem Straßenverlauf und hoffe, dass ich mich immer noch auf dem Jakobsweg befinde, ganz sicher bin ich mir da nicht. In einem kleinen Dorf hinter León schaue ich auf die Karte, wenige Sekunden danach höre ich meinen Namen. Judith hat mich aus der Ferne erkannt und mir zugerufen. Sie meint, nur ein gutes Frühstück kann meine Lebensgeister wieder zurück bringen.

Wir verschanzen uns also im erstbesten Café, dass wir finden können, es liegt direkt am schmalen Weg. Nach einem Schokobrötchen fühle ich mich schon wohler, es war also nur das fehlende Frühstück, was mir die Laune vermieste. Wir ziehen an einen größeren Tisch, Mary und das schwedische Ehepaar gesellen sich zu uns und gemeinsam verzehren wir das Essen, während immer wieder Pilger an uns vorbei laufen. Die Runde ist laut, fröhlich und permanent am Lachen, als würden wir uns schon seit langer Zeit kennen. Judith verschwindet kurz im Café und kehrt mit einem großen  mit Sahne gefüllten Napolitana zurück, das sie mir vor die Nase setzt.
„Für dich Christian, ich weiß, du kannst so viel Essen, ich weiß du brauchst das jetzt und ich weiß, du bist eine Naschkatze.“
Mit allem hat sie Recht und danach sind wir alle gesättigt und gerollt, das sollte für die nächsten Stunden reichen. Mary schließt sich uns beiden an und wir schlagen den Weg in die wilde Landschaft ein, am Horizont können wir bereits schwarze Wolken und Regen erkennen, der uns bald einholt. Judith und ich kleiden uns in unsere Regensachen, in denen schwitzt man sich aber tot. Mary geht die ganze Sache viel einfacher an, sie hat einen Regenschirm. „Er hält dich trocken, wenn es regnet, schützt dich vor der Sonne und du schwitzt nicht darunter.“
Zum Glück hat sich der Regen schnell wieder verzogen und wir können trocken weiter ziehen. Die große Pause in Villar de Mazarife halten wir zusammen mit zwei Italienern, die wir davor von Zeit zu Zeit getroffen hatten, vor dem Supermarkt. Damit will ich sagen, dass wir auf Plastikstühlen oder auf dem Bordstein vor dem Tante-Emma-Laden von Mazarife sitzen. Das Dorf ist sehr niedlich, die Herberge sieht traumhaft aus, ich habe das schwedische Pärchen dort einkehren sehen und spiele mit dem Gedanken ebenfalls hier zu bleiben, aber Judith kann mich zum Weitergehen motivieren.

In meinem Reiseführer ist dies die einzige in dieser Länge ausgewiesene Strecke. Alle sonstigen Etappen belaufen sich auf maximal 30 km, meistens aber weniger. Diese Etappe ist mit 38 km deutlich die längste des Reiseführers. Zu Recht steht dort, dass man dieses Stück Weg auf keinen Fall mit einem Mal bewältigen, sondern eher in Mazarife unterbrechen sollte, falls man in León erst begonnen hat. Wäre ich nicht schon seit zwei Wochen unterwegs, wäre ich auch nicht die vollen 38 km gelaufen, jetzt ist das nicht mehr das Problem.
Der Typ von gestern, dessen Schuhe noch geblitzt haben, ist ebenfalls hier, er hat ein gutes Tempo drauf und er geht noch weiter, davor kann ich nur meinen Hut ziehen.
Ab hier geht wieder jeder für sich, ist nicht unbedingt schön, aber machbar. Nun wird mir klar, dass ich nicht mehr alleine laufen möchte. Ich hatte meine Tage für mich allein, wo ich in Ruhe nachdenken konnte, jetzt hätte ich gerne Gesellschaft. Aber ich werde auch niemanden überreden sich meinen Pausenzeiten anzupassen.
Im Laufe der Reise ist bei mir der Trend erkennbar, dass ich gerne Kirchen besuche, das war schon vorher so, hat sich hier aber noch verstärkt, vielleicht, weil einem die Kreuze beinahe ins Gesicht springen. Ich bin nach wie vor nicht gläubig, das ist nichts für mich, interessant ist es schon, aber mehr auch nicht. Vor der Reise bin ich einmal gefragt worden, ob ich auf der Suche nach Gott wäre, eine einsame Pilgerschaft mag schon wie Katharsis oder Gottsuche klingen. Nichts da, die Frage habe ich vehement verneint. Ob er mir hier begegnet? Ja was weiß ich, vielleicht macht es vor mir Plopp und da steht Morgan Freeman und schenkt mir auf befristete Zeit seinen Job. Die nächste Frage zielte auf meine Übernachtungen, ob ich in die Herbergen oder in Hotels gehen werde. Auch das konnte ich zu der Zeit noch nicht beantworten, viel wusste ich nicht darüber, nur dass stets die Gefahr für Bettwanzen besteht, die mich aber brav in Ruhe lassen.
„Aber du solltest schon in der Herberge schlafen, Gott hin oder her, ein ordentlicher Pilger schläft in der Herberge.“
Die Pilgerbrücke

Ich glaube jedoch nicht, dass mir Gott auf einer verranzten Herbergstoilette begegnen wird, war meine Erwiderung.
Also halten wir fest, der Herr auf den Wolken zeigt sich nicht, besser so, meine Einstellung dazu hat sich auch nicht verändert. Es ist allemal besser als konfessionsloser nach Spanien zu reisen, als wenn man evangelisch getauft wurde, so wie Thomas. Die konfessionslosen lassen sich bekehren, die evangelischen sind verloren.
Solche Gedanken schießen mir durch den Kopf, Schritt für Schritt nähere ich mich Hospital de Orbigo, ein gewaltiger Durst plagt mich und ich saufe meine frisch aufgefüllte Flasche wieder leer.
Judith kann ich hier aufgabeln und mitnehmen. Als wir an einem gigantischen Kürbis vorbei laufen, lenkt sie das Thema auf Küchen, Kochen und Kürbissuppe. Lange Zeit diskutieren wir, was „Schnellkochtopf“ auf Englisch heißt, jeder kennt nur das Wort in der eigenen Sprache.
Als wir Hospital erreichen, erscheint uns der Ort furchtbar und unattraktiv, wir müssen erst fragen, ob wir am Ziel sind, denn es gibt nirgendwo ein Schild und die Wegbeschreibung im Reiseführer haut auch nicht ganz hin. Und wieder einmal gewährt der Blick um die Ecke gewaltige Überraschungen, wir laufen an einem hässlichen Haus vorbei und da tut sich zu unserer Linken die große 20-bogige Brücke auf, übrigens die längste steinerne auf dem Camino.
Die Herberge scheint für Templer gemacht, der Innenhof ist mit Templerkreuzen übersät und sieht toll aus, aber hier herrschen wieder die Fliegen und zwei kleine Katzen, die sich ständig in die Zimmer schleichen.
In der Küche bereitet jeder sein eigenes Essen zu, aber es macht Spaß sich alles mit anderen zu teilen, hier sind Koreaner, Schweden, Amerikaner. Zum Schluss geben uns die drei Italiener noch etwas von ihrer sehr scharfen Pasta ab und bestehen auf einem Wein-Gelage. Nur einer von denen kann Englisch, mir zu liebe übersetzt er alles. Judith macht sich im Spanischen ziemlich gut, sie profitiert von der engen Verwandtschaft zwischen Französisch und Spanisch, somit kann sie sich auch gut mit den Italienern unterhalten. Die Krönung des Abends ist eine Fotoschau von Judith auf ihrem Ipad, ja, auch diese Frau ist verrückt, dass sie dieses relativ schwere Gerät mit sich herumschleppt. Die haben ein schönes Apartment in Quebec, mit Klettergriffen an den Dachbalken und einer wunderbaren Küche, ein Rennrad hängt an der Wand, alles, was das Herz begehrt. Sie machen zu Hause eine Menge Wandertouren durch die vielfältige kanadische Landschaft. Und wie Judith einmal erzählte, reisen sie mit Marathons. Wenn also einer in einer größeren Stadt, wie meinetwegen New York, stattfindet, dann macht sich die Familie auf den Weg dorthin. Judith und ihr Mann Jean-Luc laufen dabei mit, oder auch Triathlons, sie und ihr Mann sind Sportskanonen, bezeichnenderweise haben sie sich in einem Jogger-Club kennengelernt.
 
zurückgelegte Strecke: 507 km

Donnerstag, 19. Januar 2012

Tag 16 14.9. Die löwenhafte

Von El Burgo Ranero nach León (38 km)
Neues Ziel?
Heute geht es endlich nach León, darauf habe ich schon lange gewartet, mein Freund Sebastian hatte León nach 14 Tagen Wanderung erreicht, ich liege zwei Tage dahinter, das ist noch okay. Wir verlassen wieder sehr früh die Herberge, jetzt, wo ich wieder mit Judith zusammen laufe, frühstücke ich auch wieder ordentlich. Im Alleingang habe ich mir jeden Morgen im Laufen einen Apfel gegönnt und das war es dann meistens auch schon bis zum Mittagessen. Durch Judith nehme ich mir dann mehr Zeit und esse einen Joghurt, immerhin,oder verschwinde im nächsten Dorf im erstbesten Café, der Einfluss einer Wandergruppe grenzt sich deutlich vom Solo-Lauf ab, in der Gruppe macht es auf Dauer auch mehr Spaß.
Enger Weg
Trotzdem gehen wir bald wieder alleine, wir haben immer noch eine klare mondhell beschienene Nacht und die Straße zieht sich wieder endlos hin bis zum Horizont, ohne, dass ein Ende in Sicht ist. Kurz vor Sonnenaufgang habe ich meine erste Begegnung mit der Handtuch-Oma, wie ich sie getauft habe. Hier kommen wieder meine Vorurteile gegenüber Deutschen ans Tageslicht. Ich bin erst an diesem Ehepaar vorbei gelaufen und hatte mich danach kurz hingesetzt, um einen Blick auf die Karte zu werfen. Als die beiden mich überholten, musste die Frau tatsächlich innehalten und mir die Schulter streicheln mit den Worten „Ach, und noch so ein junger“. In einer Sekunde hatte ich entschieden, dass ich diese Frau niemals besser kennen lernen wollte. Warum ich sie Handtuch-Oma getauft habe? Das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.
Morgens zu wandern macht nicht sehr viel Spaß, wenn man niemanden zum Reden hat. Es gibt keinen Ansporn, nichts, dass einen vorwärts treibt. Wenn die Sonne ballert, möchte man nur noch am Ziel ankommen und läuft, was das Zeug hält, die Aussicht ist auch dann viel besser. Am Morgen ist es dunkel, das hat seinen Reiz, aber mehr auch nicht.
Eine neue Blase hat sich gebildet, an einem Zeh, das kommt wahrscheinlich davon, dass meine Zehen in den Schuhen sehr eng zusammen gedrückt werden und stärker aneinander reiben. Pünktlich zur Ladenöffnung bin ich in Mansilla de las Mulas, hier ist Halbzeit und ich nehme die erste Bar, die meinen Weg kreuzt. Das Gras ist noch wunderbar nass vom Morgentau, eine Wonne für die Füße.
Stierkampfarena von León

Während ich mein Bocadillo genieße und die Füße hochlege, kommt Udo auf einen kurzen Moment vorbei. Er ist gestern auch in El Burgo Ranero geblieben, allerdings in einer anderen Herberge. Ich frage nach Thomas und Nicolien.
„Du Christian, die sind noch ein Stück weiter gelaufen“, antwortet er nur und macht sich wieder auf den Weg.
Kurz darauf trifft das schwedische Ehepaar ein und gesellt sich zu mir. Auf dem Weg hierher haben sie Judith überholt, das absolut nicht mehr wandern kann, die Blasen scheinen sie zu malträtieren.  Deswegen haben die beiden ihr Schmerztabletten gegeben, jetzt läuft sie auf Pillen weiter. Sie liegt etwa sechs Kilometer hinter uns, ich beschließe daher nicht auf sie zu warten und folge dem Ruf des Weges, kurz nachdem die Schweden aufgebrochen sind. Hinter dem Ort geht es neben der stark befahrenen und lauten Landstraße weiter, hier wurde extra für die Pilger ein breiter Staubweg gebahnt. Dahinter wird es jedoch dreckig, der Weg verschwindet und mündet in den Seitenstreifen der Straße, die Lastwagen brettern an mir vorbei und wehen mir jedes Mal meinen Hut vom Kopf, den ich zum Glück mit einer Schnur am davon flattern hindern kann. Eine ganze Weile ändert sich nichts an der Wegführung, schließlich bahnt sich der Camino wieder eine eigene Straße, zumindest für ein paar Minuten. Ich bleibe kurz stehen, um mir das Spektakel der vielen Autos anzusehen, da spaziert Mary, fröhlich singend und tanzend an mir vorbei, grüßt frohen Mutes und hüpft davon. Sie hat wohl einen guten Tag erwischt. Das schwedische Pärchen hat sich in ein Restaurant am Weg gesetzt und verspeist ein herrliches Essen, soviel lässt sich aus der Ferne erkennen, und den Wein lassen sie sich auch gut schmecken.
Tot, während der Siesta
Nun wird der Weg grässlich, es muss eine Brücke überquert werden, der Seitenstreifen wird schmaler und schmaler und verschwindet gänzlich, hier muss kalkuliert werden, ob man es noch vor dem nächsten Auto über die Brücke schafft oder nicht. Ich komme glücklich davon, habe aber auch Pilger gesehen, die sich an die Balustrade drückten, um nicht vom Auto gestreift zu werden.
Der Schrecken hat endlich ein Ende, der sich anbahnende Ort Puente Villarente scheint von der stark befahrenen Hauptstraße zu leben, ein Café wünscht jedem Pilger namenhaft „Viel Glück“. Wird das Café von Deutschen betrieben oder spielt der Name auf den hohen deutschen Pilgeranteil von immerhin 30% an?
Den Ort verlasse ich nach rechts und schlage mich durch die Weinberge, hie und da nasche ich an den Trauben, die tatsächlich nicht so süß wie in Rioja sind, aber trotzdem köstlich. Viele Male bilde ich mir ein León am Horizont erkennen zu können, aber das ist nicht möglich, wie ich gleich herausfinde, denn die Stadt wird von dieser Seite von einem Berg verdeckt. Es geht über die große Autobahn hinüber, dankenswerter Weise ist eine Fußgängerbrücke errichtet worden, und schon stehe ich in León. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wo sich die Herberge befindet, ebenso wenig, wo es zur Altstadt geht. León wirkt sehr groß, es ist jetzt etwa 16 Uhr und allzu lange möchte ich auch nicht mehr unterwegs sein. Vor mir läuft eine Pilgerin, die zumindest die Anschein erweckt den Weg zu wissen, sie fragt einen Radpilger nach der Richtung und ich folge ihr vorerst, doch bald wird mir klar, dass sie ganz andere Pläne hat. Mein Reiseführer und ein Schild verweisen auf die öffentliche Herberge, angesichts der späten Stunde denke ich, dass die anderen privaten Herbergen schon voll sind und suche damit die öffentliche. Sie liegt ganz und gar nicht auf der Route, aber direkt neben einer Polizeiwache. Trotz der Größe gibt es Achterzimmer, das ist sehr angenehm, und voll ist sie noch lange nicht.
Als ich mich gerade ausruhe und ins Tagebuch schreibe, betritt ein Pilger, etwa in meinem Alter das Zimmer, wirft seinen Rucksack enthusiastisch auf das Bett und springt munter hinterher. Ich frage ihn, ob er heute mit dem Jakobsweg anfängt.
"Ja", antwortet er, "woher weißt du das?"
"Deine Schuhe sind sauber", lautet die Antwort.
So ist es, er hat klinisch reine, dunkelbraune Wanderstiefel, die sehen sehr neu aus, oder sehr gut gepflegt. Die Schuhe der anderen, meine eingeschlossen, sind bereits mit einer weißen Schicht überzogen, die von den Staubstraßen herrührt. Es beginnen viele Wanderer den Camino in León. Mein Freund Daniel ist diesen Weg auch einmal gelaufen, sein Startpunkt war dabei León. Der Hauptgrund ist meist die Zeit. Da bin ich heilfroh, einen vollen Monat Zeit zu haben, die zwei Wochen bis hierher hätte ich nie verpassen wollen.
Der Tag geht schnell zu Ende und ich will unbedingt in die Altstadt, die Herberge liegt davon exakt eine halbe Stunde entfernt, Vorteil: man sieht viel von León und León ist wunderschön, Nachteil: man verliert eine Stunde. Aber hey, Christian, genieß die Stadt und nimm die Dinge, wie sie kommen. Denn wer weiß, vielleicht hätte sich der Tag anders entwickelt, wenn der Weg kürzer wäre, Schmetterlingseffekt und so. Okay, mal ehrlich, ich glaube nicht daran, sei es drum.
Im Stadtkern treffe ich Ivan, wir beide freuen uns sehr, einander zu sehen. Er berichtet mir von Judith, die vor kurzem eingetroffen ist. Während der Siesta sind die Straßen wie immer leer gefegt, in der Kathedrale macht das einiges her, es ist dann nicht so voll. Und die Kathedrale gefällt mir. Als ich sie verlasse, ist die Mittagsruhe vorbei und die Straßen sind mit einem Mal krachend voll, wie der Alexanderplatz in Berlin.
Leóns Kathedrale

Ich setze mich in ein Café und schreibe ein paar Postkarten, doch kurz darauf kommt der Kellner und vertreibt mich, da ich kein Kunde bin und nur in Ruhe schreiben will, darf ich hier nicht sitzen. Na gut, damit kann ich leben, schade ist nur, dass sich bisher kein einziger spanischer Kellner an dieser Gewohnheit gestört hat, alle ließen mich in Ruhe, dieser lässt mich dagegen gehen. Umso besser, denn nach drei Metern läuft mir plötzlich Judith über den Weg. Ich habe sie lange nicht mehr so strahlen sehen. Sie ist überglücklich endlich in León zu sein, die Schmerzmittel, mit denen sie noch voll gepumpt ist, tun ihr übriges.
Sie erzählt mir, dass sie noch einmal das schwedische Ehepaar getroffen hat, in eben jenem Lokal, an dem ich vorbei lief, während sie aßen. Ihre Teller waren so beladen mit Essen, dass sie alleine nicht damit fertig wurden und Judith baten ihr zu helfen.
Die Kette der Begegnungen reißt nicht ab, kurz darauf finde ich Thomas und Nicolien und jetzt kommt es. Die beiden waren gestern in El Burgo Ranero, aber letztlich wollten sie dort nicht bleiben und sind weiter gelaufen, so weit so gut. Dann wurde es Nacht und sie wollten noch immer nicht Halt machen, nachdem sie an der Straße sitzend eine Packung Chips verdrückt hatten, beschlossen sie, bis nach León zu laufen. Das sind 72 km, die haben doch einen Knacks weg. In der Stadt waren sie etwa um 8 Uhr morgens, haben sich das einzige Hotel gesucht, dass um die Uhrzeit geöffnet hat und sind ins Bett gefallen, um dann wieder um 12 aufzustehen.
Leben nach der Siesta

Bald geht die Sonne unter und ich möchte heute noch die Postkarten zu Ende schreiben, um sie morgen früh in den Briefkasten zu werfen. Nur hat León hinter jeder Ecke eine Überraschung bereit, vor dem Justizpalast findet ein öffentliches Konzert statt, für 20 Minuten höre ich es mir an. Das Bild ist recht komisch, die meisten tragen ihre Abendgarderobe, sind entweder Touristen oder Bürger der Stadt, ich kann nur mit meiner kurzen Hose, meinen in Pflaster eingeschlagenen Zehen, meinem Wanderhemd und meinen Badelatschen aufwarten. Aber wie schon gesagt, man geht als Pilger in der Masse unter.
In der Herberge ziehe ich mich in die Küche zum Schreiben zurück, dazu kommt es aber wieder nicht. Denn dort sitzen noch zwei deutsche Studentinnen, Alex und Maren, die ein Jahr älter sind als ich, und zwei Spanier, Pepe und ein unbekannter. Pepe ist ein sehr guter Läufer, er hat jedoch eine ernste Sehenscheidentzündung und muss den Weg hier beenden. Der andere Spanier war einmal Politiker der spanischen Grünen, so sieht er auch aus. Nicht, dass ich etwas gegen die Grünen habe, er wäre nur wahrscheinlich in keiner anderen Partei aufgenommen worden, mit seinen langen, lockigen und wilden Haaren, er erinnert mich sehr an meinen Gitarrenlehrer.
Keiner von beiden kann Englisch oder Deutsch, Maren, Alex und ich können dagegen auch kein Spanisch. Aber mit Hilfe meines kleinen Wörterbuches und der Mimik und Gestik können wir fünf uns gut verständigen, es ist wie eine Mischung aus Pantomime und Puppentheater, aber wir verstehen einander, ganz ohne eine gemeinsame Sprache.
Maren und Alex studieren Germanistik und Journalismus, ich muss lange raten, um das herauszufinden. Die beiden kommen aber nicht im Entferntesten auf meine Studienrichtung. Sofern der oder die andere überhaupt versteht, dass man Geologie gesagt hat und nicht eher an Theologie oder Biologie denkt (das ist alles schon passiert und wird noch weiter passieren), werden stets zwei Fragen gestellt: „Was macht man da und bekommt man überhaupt einen Job?“
Die schlichte Antwort ist „wir arbeiten mit Vulkanen“ und dann sind alle ruhig, Vulkane kennt jeder und wir werden nicht gleich auf Steine und Dreckwühler reduziert. Aber wir tun auch noch mehr, es gibt immerhin noch Erdbeben, Erdöl, Klima, Wasser, Energiewirtschaft, Ressourcen, Satelliten und einen ganzen großen Haufen. Dann sind die Leute von der Informationsflut erschlagen und still.
Maren und Alex sind zwei Trickserinnen, in Logroño wollten sie nicht mehr laufen und haben heute von dort den Zug bis hierher genommen. Es kommt eh nur auf die letzten 100 km an, aber denen ist so viel entgangen.
Der Abend wird länger, als ich es mir vorgestellt hatte, aber mit so vielen netten Menschen zusammen zu sitzen, macht viel Spaß und entschädigt für die kurze Nacht.
zurückgelegte Strecke: 469 km