Mittwoch, 8. Februar 2012

Tag 29 27.9. Das Ende der Welt

Von Cee zum Kap de Finisterre (15 km)
Die Reise endet, wie sie begonnen hat, als ich meinen Rucksack im weitgehend lichtlosen Schlafsaal packe, die Taschenlampe zwischen meinen Zähnen, fällt meine metallene Trinkflasche scheppernd zu Boden und rollt auf den Fließen durch das Zimmer. Wenn durch den Lärm auch nicht der letzte Schlafende erwacht ist, ist er oder sie vermutlich bereits tot.
Im Vorraum, das man dezent auch Foyer nennen kann, sitzt bereits Luisa, sie war auch schon vorgestern in der Herberge in Vilaserio. Sie, ihre Freundin, Lena, Bernd und ich brechen gemeinsam zu den letzten 15 Kilometern auf. Effektiv betrachtet, sind es nur zwölf bis nach Finisterre, aber die Entfernung zum Kap muss sowieso jeder laufen.
Bernd, Lena und ich am Strand
Obwohl wir uns schon am Meer befinden, müssen wir wieder bergauf steigen, dieser Trugschluss besteht jedoch nur eine kurze Zeit, denn nachdem wir uns durch eine enge und stockfinstere Gasse gequetscht haben, stehen wir mitten auf der, vom Nebel beherrschten Landstraße. Luisa packt ihre Lampe aus und leuchtet den uns entgegen kommenden Autos, damit wir nicht über den Haufen gefahren werden. Bald sind wir nur noch zu dritt, denn Lena und Bernd wünschen sich einen Kaffee und ich schließe mich bereitwillig dem zweiten Frühstück an. Nur hat das Café noch nicht geöffnet.
Kurze Zeit später, als wir uns wieder auf dem Pfad befinden, können wir das Meer riechen, im Nebel kann man leider keine zehn Meter weit schauen. Aber bald verlassen wir auch die Landstraße, das Meer ist nun auch zu hören, bald ebenfalls zu sehen. In diesem Augenblick führt der Camino neben dem Strand entlang, aber welcher Pilger läuft einen betonierten Weg, wenn er auch das sandige Ufer haben kann? Immer noch vom Nebel bedeckt, zieht sich der Strand endlos dahin, wir finden einige originale Jakobsmuscheln, ich wüsste schon gerne, ob die an meinem Rucksack echt ist.
Der einzige Nachteil fernab des Weges ist, dass wir nicht wissen, wann wir in Finisterre sind, vorsichtshalber schwenken wir nach gefühlten zwei Kilometern auf den Betonweg um und besser noch auf die dahinter liegende Straße, die uns auch fünf Minuten später nach Finisterre führt. Da wir uns in Galicien befinden, steht auf dem Ortsschild der galicische Name „Fisterra“, im spanischen heißt es dagegen Finisterra, was mir persönlich besser gefällt.
Hinab zur Todesbrandung
Finisterre kommt eine besondere geschichtliche Bedeutung hinzu. Wie es der Name vermuten lässt (jene mit Lateinkenntnissen sind im Vorteil) übersetzt sich Finis-terre zu „Ende der Welt“. Im Mittelalter galt das Kap von Finisterre als der westlichste Punkt der damals bekannten Welt und markiert so den letzten Flecken feste Erde, bevor es auf dem großen Ozean zum Rand der Scheibe ging. Der Camino de Finisterre ist ebenso alt wie der Camino de Santiago. Ein großer Teil der Pilger nahm nach der erfolgreichen Beendigung des Jakobsweges auch noch den Sternenweg auf sich, die Motivation ist weniger an einen Heiligen gebunden, vielmehr geht es hierbei um die Auseinandersetzung mit dem Tod, nicht zuletzt, weil hinter dem endlosen Meer die aus keltischen Sagen bekannte Insel der Seligen liegt.
Irgendwo in Finisterre wartet auf uns erst einmal ein Bett. Wir sind früh dran, die öffentliche Herberge hat noch lange nicht offen, aber es gibt eine private, die gut geführt ist, dort krallen wir uns ein Bett, auch wenn erst noch geputzt werden muss, bevor wir es beziehen können. In der Zeit verkoche ich alles, was ich habe, danach bleibt keine Zeit zum Ausruhen. Schnurstracks breche ich zum Kap auf, das sind etwa zwei Kilometer auf der kurvigen, eigentlich nur von Fußgängern beherrschten Landstraße, die am Leuchtturm endet. Diesen umrundet man und schon steht man auf dem Kapfelsen, 20 m darunter liegt das Meer.
Wenige Bräuche konnten sich bis heute erhalten, die meisten beziehen sich auf Finisterre, hier ist die Reise für’s erste beendet, es sei denn, man möchte den Rückweg zu Fuß antreten, was früher allgegenwärtiger war als heute.
Das Ende meiner Stöcker...
In Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Ende der Welt ergibt sich, dass man nach diesem Tag zu einem neuen Menschen wird. Am Kap ist es Sitte die Kleidung zu verbrennen, als Symbol für den Abschluss des alten Lebens (manche halten es auch so, dass sie damit alle Bettwanzen dem Feuertod überlassen). Das verbrennen am Kap, wo sich der Leuchtturm befindet, ist heutzutage leider untersagt. Es sind zur Überwachung mehrere Kameras installiert und die spanische Polizei geht rüde zu Werke, nichtsdestotrotz findet man überall Brandflecken und Aschehaufen an den Felsen.
Ein weiteres Ritual ist die Waschung in der Todesbrandung, der Name ist restlos übertrieben. Dazu begibt man sich zum Kap hinab, die Stelle ist nicht zu übersehen, nur dort kann man das Wasser adäquat erreichen.
...und einiger Klamotten
Ich bin nicht der erste, der dies versucht, die wenigen Pflanzen, die hier wachsen können sind platt getreten, mit viel Fantasie kann man von einem Pfad sprechen. Der endet aber dort, wo man klettern muss, steil führt der Weh nach unten auf eine Art Plattform. An windigen Tagen brechen die Wellen weit die Felsen hinauf, schnappen sich alles, was nicht niet- und nagelfest ist und zerren es ins Meer zurück, um es wenig später erneut auf die Felsen zu schmeißen. Heute weht kein Lüftchen, daher wird die Todesbrandung ihrem Namen nicht gerecht. Der Plan ist, sich das Gesicht zu waschen ohne, dass mich die Welle erwischt.
Nachdem ich die Wand wieder erklommen habe, muss ich zurück zur Herberge, heute gilt es ein straffes Programm durchzuziehen und die Zeit rast unermüdlich dahin. In der Herberge kann ich Bernd und Lena nicht finden, vielleicht sind sie schon zum Strand gegangen. Dort will ich meine Sachen verbrennen und meine Wanderstöcker loswerden.
Wir drei am 0-km-Stein
Die öffentliche Herberge hat mittlerweile ihre Tore geöffnet, für alle ist sie ein wichtiger Angelpunkt, denn hier erhalte ich die zweite Compostela, Voraussetzung ist natürlich die erste aus Santiago. Ich muss sagen, diese hier sieht wesentlich hübscher aus, sie bescheinigt, dass ich von Santiago den Weg hierher angetreten habe.
Auf zum Strand…
In der Böschung suche ich mir ein ruhiges und abgeschiedenes Plätzchen, ich hab noch das Feuerzeug, das mir Jan in Larrasoaña geschenkt hat. Es müssen mein Hut und ein fürchterlich abgetragenes Hemd daran glauben, beide Sachen brennen lichterloh, die Flammen schlagen ziemlich hoch und greifen rasch auf die umliegenden toten Zweige über, ich bin also damit beschäftigt, das Feuer in Grenzen zu halten. Da brennen sie, meine lieben Helfer.
Bescheidener Sonnenuntergang
am Kap
Auch wenn das Wasser kalt sein wird, ich muss im Atlantik baden gehen, ich laufe doch nicht 900 km durch Nordspanien ohne in das kühle Nass zu springen. Außerdem war ich das letzte Mal mit drei Jahren im Atlantischen Ozean baden, daran kann ich mich kaum noch erinnern, also war ich praktisch noch nie drin, jetzt wird es aber Zeit. Und es ist wirklich unbeschreiblich kalt, geradezu eisig, mir fallen gleich die Beine ab. Weit schwimme ich nicht hinaus, aber ich war baden, mehr wollte ich nicht, das erfrischt auch ungemein.
Meine Stöcker haben mir auf dem Camino gute Dienste geleistet und dürfen jetzt nach getaner Arbeit hier verbleiben, ich breche einen in der Mitte durch und errichte ein Kreuz. Unterwegs habe ich dermaßen viele Kreuze und Kirchen gesehen, ich glaube, das ist ihr würdiges Ende, der nächste religiöse Pilger kann sich gerne daran erfreuen.
Bernd und Lena tauchen nicht auf, aber sobald ich wieder in Finisterre bin, begebe ich mich auf die Suche, aber stattdessen finde ich Maren aus León. Was in aller Welt treibt sie denn hier? Ich dachte, dass sie und Alex längst über alle Berge sind, so hatte ich die Email interpretiert.
„Nee, Chris. Wir haben von León aus den Zug nach Sarria genommen und sind von dort aus brav gelaufen.“
„Dann müsst ihr ja in den letzten Tagen in Santiago gewesen sein. Und seid ihr hierher auch gewandert?“
„Nein, wir doch nicht. Wir sind mit dem Bus gefahren. Morgen geht’s wieder nach Santiago zurück.“
Großartig, ich sehe die beiden bestimmt nachher am Leuchtturm wieder.

Bernd und Lena haben sich in einem Café versteckt und ihren Tagesplan soweit erfüllt, uns fehlt nur noch der Sonnenuntergang, wenn wir den miterleben wollen, sollten wir bald zum Leuchtturm aufbrechen. Viele aus der Herberge feiern ihre eigene Party (und sind danach nicht mehr ansprechbar, weil betrunken). Zuerst gibt es das gemeinsame Essen und anschließend geht man zum Weststrand. Das ist nicht unser Ding, wir ziehen den klassischen Leuchtturm vor.
Das letzte Ritual sieht vor, am Kap den Sonnenuntergang zu betrachten und sich dann dort schlafen zu legen, am nächsten Morgen ist man als neuer Mensch erwacht und kann die Rückreise antreten.
Das Kap ist bereits gut gefüllt, Maren und Alex geben sich alle Mühe möglichst viele Seifenblasen auf den Ozean hinaus zu schicken. Vom Sonnenuntergang kommt nicht viel rüber, denn der Himmel bewölkt sich und verdeckt so gut es geht die rote Scheibe. Bernd versucht noch seine Socken anzuzünden, nur langsam ziehen Wind dichter Nebel auf, das klappt nicht sonderlich gut, schade.
Hier ist die Reise leider zu Ende, wir fahren morgen früh mit dem Bus zurück nach Santiago und dann trennen sich unsere Wege.
Bis hierher waren an beinahe 900 km, eine großartige Reise, kann die nicht noch weitergehen. Den Blasen zum Trotz, es hat sehr viel Spaß gemacht, Höhen und Tiefen habe ich viele erlebt und so auch einiges über mich gelernt, egal wie kitschig das klingt.
Es war die richtige Entscheidung den Sternenweg anzuhängen. Santiago ist eine wunderschöne Stadt, aber ein plötzliches Ende. Bei mir waren weitere 90 km nötig, um mich langsam darauf einzustellen (das hat insgesamt drei Wochen gedauert, bis ich alles realisiert hatte). Die Strecke nach Finisterre ist eine Augenweide und bildet zusammen mit dem Kap den würdigen krönenden Abschluss unserer Reise, ich kann mir wirklich keinen besseren Ort vorstellen.
Trotzdem ist es gut, dass es übermorgen wieder nach Hause geht. Meine Freundin fehlt mir und Berlin vermisst mich wahrscheinlich auch schon.

zurückgelegte Strecke: 887 km

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