Sonntag, 5. Februar 2012

Tag 25 23.9. Eukalyptuswälder

Von Ribadiso nach Monte de Gozo (37 km)
Wenn mein Plan aufgeht, nächtige ich heute in Monte de Gozo, das direkt vor den Toren von Santiago de Compostela liegt, somit hätte ich morgen einen langen Tag am Ziel meiner Reise.
Der Mann unter mir hat mich nur widerwillig schlafen lassen, andauernd hat er gegen die Unterseite meiner Matratze getreten. Bloß gut, dass ich mich früh auf die Socken mache und von hier verschwinde. Nach Arzúa geht es auch recht flott, so mancher Pilger, der sich nicht nur viel zutraut, sondern auch viel schafft ist heute Nacht hier geblieben und läuft die letzten 40 km bis nach Santiago an einem Stück.
Kreativ wie die Spanier so sind, erwartet den in Gedanken versunkenen Pilger in Arzúa eine Gruselattraktion a la Camino. Es ist noch dunkel, deshalb wirkt es auch so gut. Man geht an einem aus losen Steinen gebauten Haus vorbei und sobald man den Hühnerstall, so denkt man jedenfalls, passiert, kommt aus diesem ein grauenhaftes Krächzen und Keuchen, bei jedem Pilger. Dort hat sich wohl jemand einen Spaß erlaubt und einen Lautsprecher hinein gestellt, als Wachmacher und Lacher.
Meine Motivation wächst nur schleichend, ebenso schleichend komme ich mir heute vor. Meine Etappenhalbzeit Pedrouzu will einfach nicht näher kommen. Vereinzelt sehe ich noch die galicischen Kilometersteine, die mir in roten Lettern die Entfernung nach Santiago angeben. Bei Kilometer 27 stecke ich die Nase in den Reiseführer und der eröffnet mir, dass ich noch neun, statt der erst versprochenen fünf Kilometer laufen muss, bis ich Halbzeit habe. Die sollten den Weg mal neu vermessen und die Markierungssteine neu anordnen. Das wäre doch ein gutes Thema für eine Bachelor-Arbeit, mit einem GPS-Gerät läuft man auf dem Camino und funkt stetig ein Signal an den Satelliten, alles landet sauber und ordentlich in einer wundervollen Karte, wenn man lustig ist, kann man auch gleich einen topografischen Profilschnitt erstellen. Abnehmer für die bitteschön genauen Daten gibt es genug, jährlich wandern über eine Million Pilger, allein auf dem Camino francés, die freuen sich mit Sicherheit über bessere Schilder.
Aber auch Pedrouzou taucht irgendwann einmal auf, direkt hinein gehe ich nicht, denn das sollten nur die tun, die auch in die Herberge und nicht weiter möchten. Für alle anderen laufgewillten Verrückten gibt es eine Abzweigung am Ortseingang bei Rúa und man wird in die hübschen Eukalyptuswälder geführt. Das Klima muss wirklich feucht sein, denn es sieht wie im Dschungel aus, zum ersten Mal finde ich auch reife weiße Weintrauben, bisher waren jene, die ich gekostet hatte, zu jung. Das ist aber eine andere Traubensorte, auch die roten, mich würde interessieren, wie der Wein dazu mundet. Die galicischen Dörfler sind zu Recht misstrauisch gegenüber uns Pilgern und bauen ihre Trauben auf den Dächern ihrer Veranda an, im Normalfall zu hoch, um sie aus dem Stand zu erreichen, aber so manche seltene Rebe hängt tief und muss den Tod in meinem Mund erleiden.
Jetzt haben wir den Autobahnzubringer erreicht und umrunden den Flughafen von Santiago, ich wusste nicht, dass er direkt am Jakobsweg liegt. Nach Monte de Gozo ist es noch ein Stück, vielleicht acht oder zehn Kilometer, der Weg ist jetzt hart, nicht wirklich schwer, aber ich habe keine Lust mehr zu laufen.
Nicht mehr weit
In Lavacolla wusch man sich einst im Fluss, damit man auch sauber vor den Apostel treten konnte, eigens dafür kramte der mitdenkende Pilger das am wenigsten verdreckte Hemd aus seiner Tasche. Heute ist dies nicht mehr zu empfehlen, die Bäche haben ihre Sauberkeit eingebüßt, wer sich dennoch reinigen möchte, sollte es am Wasserhahn an der Kirche probieren.
Doch ich muss weiterlaufen und es lohnt sich auch, Monte de Gozo ist ein ansehnliches Vorstadtdorf. Die Herberge entstand in den späten 80er Jahren als Papst Johannes Paul II. auf dem Camino de Santiago pilgerte, womit ich meine, dass er die letzten fünf Kilometer von hier aus bis zur Kathedrale gelaufen ist, aber der Mann war immerhin schon alt. Um die Besuchermassen unterzubringen, wurde ein riesiger Herbergenkomplex, der einem Ferienlager gleichkommt, aus dem Boden gestampft. Hier gibt es an die 800 Betten, die Schlange vor der Rezeption ist lang, viele regen sich über den Typen am Schalter auf, weil er mit jedem Gast noch ein Pläuschen hält und nicht voran kommt, naja, lassen wir ihn halt, er macht seinen Job trotzdem gut und klappert mit mir sogar eine leere Baracke ab, um Decken aufzutreiben, von denen er mir eine überlässt. Auch wenn hier jeder Pilger unterkommt, die Baracken sind in Acht-Bett-Zimmer unterteilt und unseres ist nicht einmal voll. Hier treffe ich auch einen alten, leider jedoch namenlosen, Bekannten: den Spanier aus Larrasoaña, er hat immer noch kein Englisch oder Deutsch und ich noch immer kein Spanisch gelernt. Mir bleibt nichts weiter übrig als zu sagen „No entiendo“, aber freuen uns über einander, wie groß ist schließlich die Wahrscheinlichkeit, dass ich aus tausenden von Pilgern ausgerechnet ihn wieder sehe? Wie ich schon meinte: sage niemals nie.
Was kippen die ins Wasser?
Zu Deutsch übersetzt sich Monte de Gozo, oder auch Montxoi im galicischen, zu Berg der Freude, weil man vom Gipfelchen des Berges, wo auch ein Papstdenkmal steht, das erste Mal einen Blick auf Santiago de Compostela werfen kann. Heute allerdings herrscht das typische Wetter in Galicien, dicke Wolken am Himmel, seichter Nebel und Nieselregen. Unter diesen Bedingungen ist der Blick in die Ferne im wahrsten Sinne des Wortes aussichtslos.
In der Herbergscafeteria gibt es wenig Essen für teures Geld, ich habe jedoch ein kleines Lokal entdeckt, die Köchin macht mir zwei wunderbare Cheeseburger, die mich gut sättigen. Wenig später finde ich heraus, dass jede Baracke eine voll eingerichtete Küche besitzt, hätte ich doch nur nicht auf den schelmenhaften Reiseführer gehört. Ich setze mich kurz hinein und vertiefe ein britisches Ehepaar in ein Gespräch. Beide sind 78 Jahre alt und laufen den Camino seit zehn Jahren, manchmal auch öfter als einmal im Jahr. Der Beweis, dass es nun wirklich nicht auf die Fitness ankommt, liegt damit schon wieder direkt vor mir. Vor O Cebreiro haben Judith und ich auch ein älteres Ehepaar überholt, die zwar langsam liefen, aber dafür beständig unterwegs waren. Jeder, wirklich jeder kann hier wandern. An der Rezeption hängt ein Foto an der Wand, darauf ist eine Gruppe von Männern abgebildet, die einen Rollstuhlfahrer (mit Rollstuhl) über die Berge tragen.
Zurück zu den Briten, sie laufen so gut es geht jedesmal unterschiedliche Routen, dieses Jahr waren sie auf dem Camino de norte, dem Küstenweg. Darüber hatte ich auch erst nachgedacht, aber die Aussicht auf viel Regen hat meinen Plan auf den Camino francés gelenkt. Völlig unnötige Sorgen, beider sagen mir, dass der heutige Tag das schlechteste Wetter hat, seitdem sie gestartet sind. Lachhaft, das nächste Mal gehe ich auch den Küstenweg, der ist auch nicht so überlaufen wie die Hauptroute.
Beide waren gestern in Santiago und laufen zurück nach A Coruña, von dort nehmen sie den Zug nach San Sebastian und fliegen anschließend nach Hause.

zurückgelegte Strecke: 793 km

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