Samstag, 4. Februar 2012

Tag 24 22.9. Zu Besuch bei Casanova

Von Ventas de Naron nach Ribadiso (37 km)
Der frühe Vogel fängt den Wurm, manchmal verfängt er sich auch. Mein Wecker klingelt halb fünf und ich denke mir, welcher hirnverbrannte Idiot stellt seinen Wecker zu dieser frühen Stunde. Aber das bin ja ich. Ich habe das Gefühl, dass es mit jedem Morgen immer dunkler wird, doch es ist wohl nur Einbildung, schließlich brauche ich beide Hände, um den Bocadillo zu essen, die Stöcker hab ich mir an den Rucksack gehangen, keine freie Hand für die Taschenlampe. Trotzdem bemerkt man mich, denn ich passiere einen Hundezwinger, eigentlich bin ich totenstill, meine Schuhe machen fast kein Geräusch auf dem Asphalt, aber die Tiere scheinen mich zu hören, jedenfalls bellen alle auf einmal los und machen einen Höllenlärm. Spanische Hunde mögen mich nicht, seit ich zum ersten Mal auf dem Camino einem Hund begegnet bin, kläffen die mich unentwegt an, dabei tue ich nichts anderes als friedlich laufen.

In der Dunkelheit (meine Lampe hat einen Wackelkontakt und leuchtet nur dann, wenn sie Lust hat) ist das Verlaufen sehr leicht, ich muss oft anhalten, die Karte prüfen und überlegen (manchmal auch raten), wo ich mich momentan befinde. Ich glaube, ich bin nicht vom Weg abgekommen. In Palas de Rei bin ich nur auf Durchreise, kurz davor habe ich bei der öffentlichen Herberge einen Frühstücksstopp eingelegt. In den Nachrichten kamen auch Meldungen aus Deutschland, leider hab ich nur Minister Schäuble gesehen und kein Wort verstanden, ging wohl um Geld, naheliegend, oder? Und der Papst ist in Deutschland, da hätte ich ja gar nicht pilgern müssen. Nagut, ich bevorzuge dann doch das Grab eines Heiligen anstatt „Paparazzi“.
Lena und Bernd sind sehr schnell, in Palas de Rei kann ich den beiden zuwinken, als sie sich gerade in einer Bar verschanzen. Wenn ich es heute bis nach Arzúa schaffe, habe ich wieder eineinhalb Etappen aus meinem Reiseführer hinter mir.
Da ich nun in Galicien bin, wird das Klima mehr und mehr feuchter, wir nähern uns dem Meer, vorbei sind die staubtrockenen Tage hinter Navarra oder der Meseta. Auch gibt es hier in jedem Dorf die hórreos zu bewundern. Dabei handelt es sich um auf Pfeilern oder Stelzen gestützte Maisspeicher. Die Früchte werden darin zur Trocknung und zum Schutz vor Mäusen aufbewahrt, daher auch die kleinen Luftschlitze und die Errichtung auf einem hohen Sockel.
Die Tage werden zunehmend ereignisloser, eine Folge des Alleinwanderns, man hat ja niemanden, mit dem man sich unterhalten kann und übermäßig kontaktfreudig ist hier sowieso keiner.
Was tun wir denn, wenn wir Santiago erreicht haben? Ich für meinen Teil will weiter zur Küste laufen, aber was kommt nach den zusätzlichen 90 Kilometern? Der Jakobsweg ist meine längste Reise, die ich bisher unternommen habe, zu Fuß erst Recht. Das ist ein völlig anderes Leben, als man es sonst gewöhnt ist. Sich aus dem Rucksack zu bedienen, sich Gedanken zu machen, was es morgen zu Essen gibt und wo man die Nacht verbringt (nicht jeder denkt darüber nach), das sind für mich alltägliche Gedanken auf dem Camino. Wir lernen uns auf ein Minimum zu beschränken, nur mit dem nötigsten zu leben. Abhängig von den Herbergspreisen kommt man im Schnitt mit 15 € (oder auch weniger) am Tag gut weg.
Bei der nächsten Rucksacktour werde ich meine Tasche besser packen. Der Rucksack selbst ist schon zu schwer, ein leichterer und kleinerer tut es auch, 65+10 Liter sind schlicht zu viel. Die Regenjacke ist auch unnötig, besser ist ein Regenponcho, der ist um ein Vielfaches leichter, nimmt extrem wenig Platz weg und ist dann auch wirklich wasserabweisend. Über neue Schuhe könnte ich in Zukunft auch nachdenken, meine Lederstiefel von Hanwag sind super, in den Alpen hatte ich keine Probleme, seit zwei Jahren leisten sie gute Dienste, hier bekomme ich Blasen, es ist eben Leder. Vielleicht wären Schuhe aus GoreTex eine lohnenswerte Investition. Und bei der nächsten Wanderung lege ich mir von Anfang an Wanderstöcke zu, sie sind sehr hilfreich und nicht immer hat man so viel Glück wie ich unterwegs welche zu finden.
In Sachen Verpflegung kann man sich manchmal auch vom Weg ernähren, es gibt an den Seiten stets üppig behangene Bäume mit Nüssen, Äpfeln, Pflaumen, Esskastanien und natürlich Weinfelder so weit das Auge reicht. Die Wasserversorgung ist gut, mehrmals am Tag stoßen wir auf einen Brunnen, das Wasser ist zwar gechlort, um etwaige Keime abzutöten, aber man gewöhnt sich daran, es ist trinkbar, die Spanier trinken es auch, in den Städten, auf dem Lande, überall. Einige Pilger vertragen das gechlorte Wasser nicht und bedienen sich aus den Wasserflaschen, die sie im Supermarkt kaufen, das heißt aber auch, dass sie, gerade für die heißen Abschnitte, mehrere Liter mit sich tragen, während unsereins die kleine Flasche stets neu auffüllen kann.
Ich laufe durch den Ort Casanova, hier gibt es weder ein Schloss oder ein feines Haus, noch ist irgendetwas neu, und Casanova lässt sich auch nicht blicken. Doch der Ort sieht lieblich aus, etwa wie eine südfranzösische Villa auf dem Land mit sattgrünen Bäumen und Sträuchern, Weinreben und schattigen Plätzchen.
Viele junge Spanier mit kleinen Rucksäcken müssen sich von mir überholen lassen. Ich vermute, dass sie nur die letzten 100 km des Camino laufen, um die Compostela zu erhalten. Im katholischen Spanien ist diese Urkunde gern gesehen und macht sich hervorragend im Lebenslauf, weil man damit eine tiefe religiöse Verbundenheit ausdrücken kann. Das zahlt sich auf jeden Fall bei Bewerbungen aus. Für mich ist das die Ironie des Schicksals. Eigentlich pilgerten die Menschen auf dem Jakobsweg, um sich von ihren Sünden zu befreien oder um zu sich selbst zu finden, kurzum, der Weg ist ursprünglich stark religiös und spirituell angehaucht. Es sind jedoch offiziell nur die letzten 100 km nachweisbar, eben durch jene Urkunde, die von der Kathedrale in Santiago ausgestellt wird. Spanische Arbeitgeber sehen anscheinend gerne eine religiöse Motivation, die Folge ist, dass viele Jugendliche die letzten 100 km laufen, das schafft man an einem verlängerten Wochenende, nur um in den Besitz der Compostela zu kommen. Damit weisen sie das auf, was der Arbeitgeber sehen will, zumindest in Papierform. Es macht schon Spaß mit so vielen unterschiedlichen Menschen aus aller Welt unterwegs zu sein.
Gegen Nachmittag betrete ich Ribadiso, das liegt nur ein paar Kilometer vor Arzúa. Ich werfe einen Blick in die Herberge, die sieht ganz schick aus, eigentlich sind noch alle Betten frei und es gibt eine geräumige Küche, das ist der Funke, der schließlich zündet. Die Herbergsmutter bedient jeden Gast persönlich und lange, eine Frau steht vor mir in der Schlange und möchte einen Schlafplatz haben, die Besitzerin führt sie herum und meint, dass sie sich von überall ein Bett aussuchen kann.
Die nächste Frau kommt aus Südafrika und spricht genauso viel Spanisch wie ich, nämlich so gut wie kein Wort. Sie fragt die Besitzerin auf Englisch, wo sie etwas zu essen bekommen kann. Sie antwortet ihren vorbereiteten Text, anhand der Gestik und wenigen Brocken kann ich heraushören, dass sie in der Bar nebenan gut versorgt wird oder sich in der Küche selbst zur Hand gehen kann. Die Südafrikanerin versteht kein Wort, also schreite ich ein und übersetze die Antwort ins Englische.
Nun bin ich an der Reihe, lege ihr das Geld hin und werde ebenfalls herumgeführt, auch wenn ich die erste Führung mitbekommen musste, weil beide in Sichtweite waren und die Frau nicht gerade leise spricht. Weil ich der Pilgerin vor mir ausgeholfen habe, denkt sie wohl, dass ich ein exzellentes Spanisch spreche, deshalb brabbelt sie mich zu wie ein Wasserfall. Ich kann sie nur mit „No entiendo“ ausbremsen, was so viel heißt wie, „Ich verstehe Sie nicht“. Darauf macht sie kurz ein enttäuschtes Gesicht, aber sie fängt sich schnell wieder und flutet mich weiter in Kastellanisch voll.
Da in sieben Tagen mein Flieger in den Himmel abhebt, sollte ich bald mein Ticket ausdrucken, ich will mich nicht darauf verlassen, dass ich in Santiago einen Drucker finde. Es gibt hier nämlich einen und ich packe die Gelegenheit beim Schopfe. Während ich darauf warte, dass der Computer frei wird, sitze ich mit einer Irin und ihrer Freundin an einem Tisch, wir haben ein langes Gespräch über die Mischung der Pilgerschaft, die jetzt immer mehr zunimmt. Leider kennt sie niemanden von den Iren, die mit mir gelaufen sind, auch wenn sie immer zur selben Zeit unterwegs war wie wir. Warum treffe ich so viele Iren?

zurückgelegte Strecke: 756 km

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