Montag, 6. Februar 2012

Tag 26 24.9. Endlich Santiago

Von Monte de Gozo nach Santiago de Compostela (5 km)
I HAVE A DREAM, könnte ich meinen. Mein Traum/Plan sieht wie folgt aus: ich will im Sonnenaufgang in Santiago einreiten. Damit das klappt, muss ich etwa gegen acht Uhr die Stadtgrenze überschreiten, also kann ich gemütlich um sieben Uhr aus den Federn springen, ein letztes Mal ausschlafen sozusagen.
Ein Stück Heimat auch in Spanien
Ich wache natürlich vor der Zeit auf, im Zimmer herrscht Radau, denn meine Zimmergenossen machen sich lautstark fertig, aber ich habe fast schon zu viel gepennt und schließe mich denen an. Im Kühlschrank in der Küche finde ich Baguette vom Vorabend, tolles Frühstück, und mache mich bald hinaus in die Wanderschaft. Das Wetter zieht alle Register, als starken Kontrast zu gestern haben wir einen wolkenlosen Himmel, am Horizont kann man bereits rote Streifen erkennen, jetzt aber schnell.
Mein Plan geht auf, mit der Sonne im Rücken marschiere ich in Santiago de Compostela ein, die Stadt hat mich schon auf den ersten Metern für sich gewonnen. 
Volles Haus zur Messe
 Santiago ist sehr hügelig, daher sehen die grünen und bebauten Hänge auch so eindrucksvoll aus. Wir, also die Pilgertraube, in der ich irgendwie drin stecke, passieren das Herbergenviertel, hier stehen nur private, vielleicht eine gute Überlegung, wenn ich von der Küste wiederkehre, aber für’s erste suche ich die öffentliche Herberge, die soll angeblich auch näher am Stadtzentrum liegen.
Doch zuerst geht es durch die engen Häusergassen bergab Richtung Altstadt, die sich mit hohen Häusern und engen Gassen vor mir auftürmt. An jeder Ecke findet sich ein Pfeil, der die letzten Meter zur Kathedrale weist, diese betrete ich durch das Nordportal und nicht wie gedacht, durch die Westseite.
Der Bau ist gewaltig, der Innenraum ist so groß wie in Burgos, vielleicht auch größer und hier wurde nicht mit Sitzbänken gespart, alle drei Schiffe sind voll gestellt. Hier sind nicht allzu viele Menschen, darunter nur sehr wenige Pilger, aber viele Touristen, erkennbar an der schicken, sauberen Kleidung und den Schuhen. Sofort wird der Blick auf den prächtigen, in nichts nachstehenden Altar gezogen. Dort thront der heilige Jakob, in eine büstenhaften Goldstatue gefasst, noch weiter oben reitet er auf seinem weißen Ross und spielt erneut den Matamoros. Wie es der Brauch will, umarmen die Pilger den heiligen Jakob und melden ihm dankbar den Abschluss der Reise, dazu kann man hinter dem Altar zu diesem emporsteigen. Es hat sich bereits eine lange Schlange gebildet, ob der engen Treppe stelle ich meinen Rucksack in eine einsame, dunkle Ecke und ernte dafür böse Blicke von den Touristen. Pilgerkathedrale?
Zwischen Rathaus und Kathedrale
Die Treppe ist aus feinstem, roten Marmor errichtet, es geht nur wenige Stufen hinauf in einen glitzernden Raum hinein, zur Linken zeigt einem Jakob die Rückseite, ich umarme den Heiligen von hinten und bin zugleich froh und ein wenig traurig, dass es hier vorbei ist. Man hat übrigens einen tollen Blick auf den Vorderaltar und auf die Sitzreihen. Anschließend steige ich die zweite Treppe hinab, lande wieder auf der Grundebene und gehe noch ein Geschoss tiefer, diesmal unter den Altar. Hier liegen Jakobs Gebeine in einem silbernen Sarkophag verschlossen, ein Gitter trennt die Besucher von Santiago, für fromme Menschen gibt es auch eine Gebetsbank.
Barocke Westfassade der
Kathedrale
An der Südseite der Kathedrale schließt sich das Pilgerbüro an, wo die lang ersehnte Compostela ausgestellt wird. An vier Schaltern kann man bedient werden, die Frau möchte lediglich meinen Pilgerausweis sehen, dort stehen neben meinem Namen, der Herkunft und der Nummer meines Personalausweises auch die Stempel, die ich bis hierher gesammelt hatte. Dies bescheinigt der Frau, dass ich die gesamte Strecke zu Fuß zurückgelegt habe, insbesondere der letzten 100 km, auf die es ja eigentlich nur ankommt. Ein letztes Mal werde ich danach gefragt, ob ich in Roncesvalles gestartet bin, denn das ist der erste Stempel.
„Nein, in St.-Jean, ich habe nur vergessen mir dort einen Stempel zu besorgen“, antworte ich.
Zoom auf den Altar
Das genügt ihr. Sie nimmt den Fragebogen entgegen, in dem angegeben habe, dass ich keiner Religion angehöre.
„Hier steht, dass sie nicht religiös sind“, sie verweist mit einem Fingertippen auf mein Kreuz. „Ist ihre Reise denn spirituell motiviert?“
„Ja, ja“, lüge ich zusammen.
Damit händigt sie mir die Compostela aus. Tja, so leicht kann man der Kirche ein Schnippchen schlagen. Ich bin weder religiös noch spirituell unterwegs gewesen, auch wenn das manch anderer behaupten mag. Aber die Compostela der Kathedrale erhält man nur mit einem der beiden Gründe, ansonsten gibt es die kulturelle, die aber nur ein billiger Ersatz der ursprünglichen Urkunde ist und auf das Original bin ich nun mal scharf. Ich kaufe mir auch gleich eine Papprolle, um das Dokument sicher darin aufzubewahren.
In der Compostela steht folgendes: „Das Kapitel der Heiligen Apostolischen Erzbischöflichen Compostelanischen Kathedrale, Kustos des Siegels des Altars des Apostels St. Jakobus, zu allen Gläubigen und Pilgern, die, von überall her kommend, mit Andacht oder auf Grund eines Gelübdes vor dem Apostel Jakobus, Unseres Schutzpatrons Spaniens, niederlassen, beurkundet im Beisein aller, die diese Urkunde lesen möchten, dass: Herr Christian Böhnke mit Andacht und mit einer christlichen Motivation (pietatis casua) diese hochheilige Kirche besuchte. Zu Urkund dessen überreiche ich ihm diese Urkunde, die mit dem Siegel der heiligen Kirche bekräftigt ist. 
Überreicht
in Santagio de Compostela am 24. September Anno Domini 2011“.
Aufstieg zum Apostel
Der Name ist stets latinisiert, meine Motivation ist natürlich nicht christlich, aber mein Name schon, das reicht doch wohl.
Draußen auf dem Flur stoße ich auf Thomas und Nicolien, die wenig später auch in Besitz der Urkunde sind, Thomas kann sich wahrscheinlich bald eine ganze Zimmerwand damit tapezieren. Wie gut, dass wir die Formalität hinter uns haben, draußen bauscht sich eine lange Schlange auf, in der würde ich nicht stehen wollen.
Beide suchen sich ein Hotel und ich latsche zur Westseite der Kathedrale, diesem Teil wurde ein barocker Überzug übergeworfen und sieht wie eine Kleckerburg aus. Auf der anderen Seite steht das Rathaus, glaube ich, dazwischen ist nur ein riesiger Platz, gefüllt mit Unmengen an Menschen, meist Pilger. Dort finde ich Lena und Bernd, die sich im Hotel an eben jenem Platz einquartiert haben, die beiden kommen von Arzúa, wie auch Nicolien und Thomas. Und beide wollen morgen weiter Richtung Küste laufen, verabreden tun wir uns besser nicht, das würde nur im Chaos enden, das klappt nämlich nur sehr schlecht. Aber wir werden uns wahrscheinlich morgen in Vilaserio sehen.
Und sein Grabmal
Vom Platz vertreibt mich eine Oldtimer-Parade, nett anzusehen, aber hupend und im Weg, deshalb verdrücke ich mich in Richtung Pilgerbüro und werde erneut von Thomas, Nicolien und den Deutschen überrascht. Die stecken mir, dass Judith heil hier angekommen ist und rasch in der Kathedrale verschwand, um ihre Pilgerreise mit der Umarmung zu beenden. Aber dort ist sie nicht mehr, wahrscheinlich haben wir uns um wenige Minuten verpasst.
Nun ist es Zeit, die Herberge aufzusuchen, diese thront außerhalb der Altstadt auf einem der vielen Hügel und sieht von außen wie ein altes, großes Hospital aus. Der Schuppen hat noch nicht offen, in einer halben Stunde beginnt die Pilgermesse und die Zimmer sind noch nicht begehbar, weil noch geputzt werden muss. Aber der Schalter öffnet, nur leider bekommt der Kerl nichts gebacken, der Computer ist anscheinend unheimlich langsam, die Zeit bis zur Messe rückt näher und ich muss dort hin rennen, aber das nützt auch nicht viel. Alle Gäste stapeln sich bereits, die Sitzplätze sind wahrscheinlich schon seit langer Zeit besetzt, alle drei Schiffe sind restlos überfüllt und ich glaube zwischen Tür und Angel stehen auch noch Gäste. Der Gottesdienst beginnt mit dem Orgelspiel, welches natürlich zu einem triumphalen Thema wechselt, als die Priester in die Kathedrale einziehen. Vom Gottesdienst selbst verstehe ich kein einziges Wort, es ist alles auf Spanisch. Aber die Nonne beeindruckt mich, sie saß bisher still im Hintergrund und regt nun die Gemeinde zum Singen an, in Latein, die Frau hat die Stimme eines Engels und schafft es auch, dass wir alle gemeinsam zwei lateinische Lobgesänge schmettern.
Butafumeiro (photo by Alex)
Ich habe gelesen, dass nach dem Gottesdienst der Botafumeiro, das große Weihrauchfass, durch die Seitenschiffe geschwungen wird, das bleibt heute anscheinend aus. Ein Priesterdiener meint jedoch, dass ich es in den Abendstunden noch einmal versuchen sollte.
Für’s erste begebe ich mich in meine Herberge. Das Foyer ist groß, erinnert mich an den Vorraum eines Schlosses, aber der Rest gleicht einer Massentierhaltung. Die Schlafsäle sind auf drei Etagen verteilt, in einem Saal finden an die 150 Betten Platz. Ein großartiges Sightseeing bleibt aus, denn ich bin ja in vier Tagen wieder hier und habe dann mehr Zeit als genug. Mein Buch hat noch genug Seiten und beschäftigt mich, bis ich vor Müdigkeit die Augen schließe und in den Mittagsschlaf entschwinde.
Gegen sechs Uhr abends schaue ich auf einen Sprung in der Kathedrale vorbei und bekomme gerade noch das Ende des Weihrauchfasses mit, was einen angenehmen Duft im Kirchenhaus verbreitet. Das Teil wird von acht Männern in Schwung gebracht, pendelt lange Zeit hin und her und wird dann von einem Priester elegant aus dem Schwung aufgefangen.
Der Rückweg zur Herberge kreuzt den Markt, in mehreren steinernen Hallen und auf den Bürgersteigen davor bieten Menschen ihre Waren feil. Dominiert wird der Verkauf von Fleischwaren und Fisch. Ganz neu für mich sind aber die Hühner, die am Stück verkauft werden, damit will ich sagen, dass denen nur die Federn fehlen und sie mit langen, kahlen Hälsen und leblosen, kleinen Köpfen auf dem Eis liegen. Das erinnert mich an „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch, wo die Hühner reihenweise ersticken.
Ein letztes Treffen
Im Anschluss ziehe ich suchend durch die Straßen. Wo sind meine Mitpilger? Ich klappere wirklich jede Bar ab, aber nirgendwo findet sich ein Zeichen. Schließlich stolpere ich beinahe über Thomas, der gerade eine Zigarette raucht, wenn er nicht draußen gewesen wäre, hätte ich die anderen wahrscheinlich nie gefunden, in der Bar sitzen noch Nicolien, Ilka und zwei der deutschen Gruppe. Heute gibt es den zweitbesten Wein, der mir hier in Spanien untergekommen ist, einen weißen Albariño Pazo de Portico. Davon trinken wir auch viel zu viel, na gut, die Rasselbande hat heute den letzten Abend, morgen reisen alle wieder ab, entsprechend groß ist die Feierlaune.
Falls ihr euch erinnert, ich habe von den Salzburgern erzählt, deren Existenz mich über mehrere Ecken erreicht hat. Eben jene sind von Salzburg aus hierher gelaufen. Und der eine Typ ist mit denen zwei Wochen in Frankreich gewandert, er hat irgendwo in Deutschland angefangen und die meiste Zeit draußen gecampt. Sein Zelt ist nur eine Plane, die Stöcker sind seine Wanderstöcke, des Weiteren hat er noch Campingkocher und Essen dabei gehabt, dabei schleppt er nur zehn Kilo, alles ist ultraleichte Ware und wahrscheinlich auch ultrateuer, dafür aber umso effektiver.

zurückgelegte Strecke: 798 km

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